Lovesong
natürlich an, so sehr, dass es scheint, als wären die letzten drei Jahre nie vergangen. Fast schon bin ich versucht, ihre Wangen, ihr Kinn, ihre Stirn zu streicheln.
Fast. Aber doch nicht ganz. Es ist so, als würde ich Mia durch ein Prismenglas betrachten, denn sie ist zwar zum größten Teil das Mädchen, das ich einmal kannte, aber irgendwas ist anders. Deshalb ist die Vorstellung, ich könnte die schlafende Mia berühren, nicht süß oder romantisch. Es käme einfach nur gewöhnlichem Stalking gleich.
Ich richte mich auf und dehne meine Glieder. Schon bin ich drauf und dran, sie zu wecken – doch irgendwie bringe ich es nicht über mich. Stattdessen wandere ich ziellos durch das Haus. Ich war so neben mir, als wir es vor ein paar Stunden betraten, dass ich es gar nicht richtig wahrgenommen habe. Und jetzt, als ich es mir so anschaue, fällt mir auf, dass es komischerweise aussieht wie das Haus, in dem Mia aufgewachsen ist. Da ist die gleiche kunterbunt zusammengewürfelte Sammlung von Bildern an der Wand – ein Elvis auf Samt, ein Poster von 1955, auf dem für das Finale der Baseballliga zwischen den Brooklyn Dodgers und den New York Yankees geworben wird –, und es ist ähnlich dekoriert, wie zum Beispiel mit der Chilischoten-Lichterkette, die den Türrahmen ziert.
Und Fotos, überall Fotos, an den Wänden, auf jeder freien Fläche auf Schränken und Regalen. Hunderte von Fotos von ihrer Familie, darunter auch diejenigen, die früher bei ihnen zu Hause an der Wand hingen. Da ist das Hochzeitsfoto von Kat und Denny, ein Schnappschuss von Denny mit nietenbesetzter Lederjacke, wie er die kleine Mia an einer Hand festhält, ein Foto von der achtjährigen Mia, die sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an ihrem Cello festklammert, Mia und Kat, die Teddy mit hochrotem Gesicht kurz nach seiner Geburt auf dem Arm halten. Da ist sogar dieses herzzerreißende Bild, auf dem Mia Teddy etwas vorliest, das Foto, das ich mir im Haus ihrer Großeltern nie habe anschauen können, das mir aber komischerweise hier in Mias Wohnung nicht mehr so viel ausmacht.
Ich durchquere die winzige Küche, wo eine ganze Galerie an Aufnahmen hängt, von ihren Großeltern, die vor einer Vielzahl an Orchestergräben sitzen, von Mias Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen, die durch die Berge Oregons wandern oder einander mit Biergläsern in der Hand zuprosten. Da ist ein wildes Durcheinander von Schnappschüssen von Henry und Willow und Trixie und dem kleinen Jungen, der Theo sein muss. Es gibt Fotos von Kim und Mia von der Highschool und welche, auf denen sie auf dem Empire State Building stehen und posieren – und all diese Aufnahmen rufen mir auf erschütternde Weise in Erinnerung, dass ihre Beziehung nicht in die Brüche gegangen ist, dass sie immer noch eine gemeinsame Geschichte haben, von der ich nichts weiß. Da ist noch ein Foto von Kim, auf dem sie eine Splitterschutzweste trägt, und ihr Haar ist völlig zerzaust und offen und weht im Wind.
Da sind Fotos von Musikern in eleganter Abendkleidung mit Champagnerflöten in der Hand. Ein Mann mit leuchtenden Augen und einem lockigen Haarschopf im Smoking, der einen Taktstock in der Hand hält, ist auf einem Bild zu sehen, und auf einem anderen ist derselbe Typ abgelichtet, wie er eine Gruppe genervt wirkender Kids dirigiert, und dann noch einmal er, neben einer wunderschönen Farbigen, die ein nicht ganz so genervtes Kind küsst. Der Typ muss Ernesto sein.
Ich spaziere raus in den Garten, um die gewohnte Zigarette nach dem Aufwachen zu rauchen. Ich durchsuche meine Taschen, doch finde ich nichts als meine Brieftasche, meine Sonnenbrille, den geborgten iPod und das übliche Sortiment an Plektren, die in allen meinen Taschen zu finden sind. Dann fällt mir ein, dass ich die Zigaretten wahrscheinlich auf der Brücke verloren habe. Nichts zu rauchen. Keine Pillen mehr. Ich schätze, heute ist der richtige Tag, um mit all meinen schlechten Angewohnheiten Schluss zu machen.
Ich gehe wieder nach drinnen und sehe mich noch ein wenig um. Das Haus sieht ganz anders aus, als ich es erwartet hätte. So viel, wie sie von Umzügen gesprochen hat, hätte ich gedacht, ihre Bude müsse voller Umzugskisten sein, etwas Unpersönliches und Aseptisches haben. Und ganz gleich, was sie auch über Geister gesagt hat – ich hätte niemals erwartet, dass sie es sich tatsächlich mit all diesen Gespenstern gemütlich gemacht hat.
Nur nicht mit meinem Geist. Es gab kein einziges Foto von mir,
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