Lovesong
dieser Promenade die Fassung verliere. Sie wird Zeugin, wie die Risse sich immer weiter öffnen, wie die Lava daraus hervortritt, wie diese megamäßige Explosion vor sich geht, die, wie mir scheint, in ihren Augen Schmerz zutage treten lässt.
Doch ich weine nicht, weil es wehtut. Ich weine aus reiner Dankbarkeit.
20
Kann mich bitte jemand wecken, wenn das alles vorüber ist,
wenn die Stille den Abend vergoldet.
Legt mich auf ein Bett von Klee,
oh, ich brauche Hilfe bei dieser Last.
»Hush«, Collateral Damage, Song Nummer 13
Als ich mich wieder im Griff habe und einigermaßen ruhig bin, fühlen meine Knochen sich an, als bestünden sie aus totem Holz. Ich lasse den Blick sinken. Ich habe gerade einen riesigen Becher irrsinnig starken Kaffee getrunken, und er könnte genauso gut randvoll mit Schlaftabletten gewesen sein. Ich könnte mich direkt hier auf dieser Bank schlafen legen. Ich drehe mich zu Mia und erkläre ihr, dass ich schlafen müsse.
»Ich wohne ein paar Blocks von hier«, meint sie. »Du kannst bei mir pennen.«
Ich bin total alle und so was von schlapp, weil ich geheult habe. So habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich ein Kind war, ein überaus sensibles Kind, das so lange anlässlich irgendeiner Ungerechtigkeit schreien konnte, bis alles hinausgeschrien war und meine Mutter mich ins Bett steckte. Ich stelle mir Mia vor, wie sie mich in ein Kinderbett legt und mir die Buzz-Lightyear-Bettdecke bis unters Kinn hochzieht.
Es ist jetzt mitten am Vormittag. Die Leute sind wach und auf den Beinen. Während wir so nebeneinanderher gehen, verlassen wir die ruhige Wohngegend und kommen in eine geschäftige Straße mit Läden, Boutiquen und Cafés voller Szeneleute, die diese Läden und Cafés üblicherweise frequentieren. Aber ich kümmere mich nicht um irgendeine Verkleidung – keine Sonnenbrille, keine Mütze. Ich versuche erst gar nicht, mich zu verstecken. Mia schlängelt sich durch die zunehmenden Menschenmassen und biegt dann in eine Seitenstraße mit viel Grün und einer Reihe von Altbauten und Backsteinhäusern ein. Vor einem kleineren Backsteingebäude bleibt sie stehen. » Home sweet home. Hier wohne ich zur Untermiete, bei einer professionellen Violinistin, die bei den Wiener Philharmonikern spielt. Ich wohne jetzt schon sensationelle neun Monate hier, ein echter Rekord!«
Ich folge ihr in das schmalste Haus hinein, das ich je gesehen habe. Das Erdgeschoss besteht aus nur einem Wohnzimmer und einer Küche, von der aus eine gläserne Schiebetür raus auf einen Garten führt, der ungefähr doppelt so lang ist wie das Haus selbst. Es gibt eine weiße Couchgarnitur, und Mia deutet mir an, ich solle mich doch hinlegen. Ich schleudere die Schuhe von mir und mach es mir gemütlich. Sofort versinke ich tief in den plüschigen Kissen. Mia hebt meinen Kopf, schiebt ein Kissen darunter und deckt mich mit einer weichen Decke zu, die sie mir hochzieht und feststeckt, genau wie ich es mir vorgestellt habe.
Ich versuche, ihre Fußtritte auf der Treppe zu hören, die hoch in ihr Schlafzimmer führen muss, doch stattdessen spüre ich, wie die Polster ein wenig federn, als sich Mia am anderen Ende der Couch niederlässt. Sie strampelt ein paarmal mit den Beinen. Ihre Füße ruhen nur wenige Zentimeter neben meinen. Dann stößt sie ein langgezogenes Seufzen aus, und ihr Atem verlangsamt sich und wird gleichmäßig. Sie schläft. Und innerhalb weniger Minuten bin auch ich eingeschlafen.
Als ich aufwache, ist die Wohnung hell erleuchtet. Ich fühle mich so frisch, dass ich schon einen Moment lang befürchte, mindestens zehn Stunden geschlafen und meinen Flug verpasst zu haben. Doch ein flüchtiger Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass es erst kurz vor zwei ist und immer noch Samstag. Ich habe nur ein paar Stunden gepennt, und um fünf muss ich Aldous am Flughafen treffen.
Mia schläft noch immer; sie atmet tief und schnarcht fast ein bisschen. Eine Weile beobachte ich sie. Sie sieht so friedlich aus und so vertraut. Schon bevor ich unter starker Schlaflosigkeit zu leiden begann, hatte ich abends immer Probleme mit dem Einschlafen, wohingegen Mia nur fünf Minuten in einem Buch lesen musste, und schon drehte sie sich zur Seite und war weg. Eine Haarsträhne ist ihr ins Gesicht gefallen, die nun mit jedem Atemzug von ihrem Mund angesaugt wird. Ohne darüber nachzudenken, beuge ich mich vor und schiebe die Strähne weg, wobei meine Finger zufällig ihre Lippen berühren. Es fühlt sich ganz
Weitere Kostenlose Bücher