Luc - Fesseln der Vergangenheit
Augen fixierte er den Stuhl, der mitten in dem ansonsten leeren Raum stand und ihn zu verhöhnen schien. Die Entfernung betrug keine fünf Meter, aber zuvor musste er sich anziehen und hochkommen. Damit hatte er wenigstens eine Aufgabe. Seine verdreckte Kleidung überzustreifen war vergleichsweise einfach. Als er unsicher schwankend aufrecht stand, lief ihm Schweiß übers Gesicht und den Rücken hinab, aber er hatte den ersten Schritt geschafft und war nicht wieder sofort umgekippt. Die Distanz zum Stuhl wirkte lächerlich, aber alleine die Vorstellung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war ernüchternd.
Mit fest zusammengebissenen Zähnen machte er sich auf den Weg. Es war einfach grotesk, er war hervorragende Zeiten beim Marathon gelaufen und bisher niemals ernsthaft krank gewesen, und jetzt stellten ihn diese verdammten Meter vor eine ähnliche Herausforderung wie die Besteigung eines Achttausenders.
Seine Sicht verschwamm. Schwindelgefühle ließen ihn stolpern, aber dann berührte seine Hand die Lehne und er sank erleichtert auf den einfachen Holzstuhl. Sein Herzschlag dröhnte laut in seinen Ohren und sein Puls raste, aber es war ein Anfang. Das Auswahltraining der SEAL s hatte die Anwärter bis über die Grenzen der physischen Belastbarkeit geführt, aber am nächsten Tag hatten sie weitergemacht und am Ende begriffen, dass nicht der Körper, sondern der Geist über das Durchhalten entschied. Aufgeben kam nicht in Frage, und da er durchtrainiert und bisher kerngesund gewesen war, würde die Welt in vierundzwanzig Stunden völlig anders aussehen. Theoretisch.
Schwer atmend wartete er darauf, dass sich sein rasender Herzschlag beruhigte. Durch das Rauschen seines Bluts in den Ohren hörte er zu spät, dass sich jemand an der Holztür zu schaffen machte. Als sie sich langsam öffnete, stand er schnell auf. Zu schnell, sein Kreislauf drohte zu kollabieren. Halt suchend tastete er nach der Lehne und fluchte innerlich, als sich seine Sicht so weit klärte, dass er die Neuankömmlinge erkennen konnte. Zwei Männer sahen ihn ausdruckslos an, während Jasmins Blicke ihn förmlich durchbohrten.
»Was an ›liegen bleiben‹ hattest du nicht verstanden?« Ihr Fauchen glich dem einer wütenden Katze.
Von ihr abgelenkt, identifizierte er die beiden Männer mit Verspätung. Nach Warzai traf er nun auf die nächsten prominenten Talibanführer: Hamid und Kalil Kazim, Brüder, skrupellos und tödlich, aber dennoch galten sie im Gegensatz zu Warzai als gemäßigt, was jedoch nichts hieß. Selbst Attila der Hunne war im Vergleich zu Warzai wohl eher harmlos gewesen. Im Internet kursierten Bilder von der Hinrichtung eines französischen Reporters. Angeblich war der Mann von Hamid selbst erschossen worden, und selbst altgediente Soldaten hatten ihr Frühstück auf dem Wüstenboden verteilt, als sie die abgeschnittenen Genitalien des Reportes in dessen Mund entdeckten. Keiner konnte sicher sagen, ob der Mann vor oder nach seiner Exekution verstümmelt worden war. Auch wenn Hamid nach Jasmins Fauchen amüsiert grinste, machte sich Luc keine Illusionen über den Charakter des Mannes.
Er hätte seinen Jahressold dafür gegeben, den Brüdern in voller Kampfmontur gegenüberzustehen, und es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, sie persönlich ins Gefängnis zu befördern. Ihm blieb nur noch sein Stolz. Unauffällig verlagerte er sein Gewicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Jedes Zeichen von Schwäche, und sei es der Halt suchende Griff an die Lehne, war nicht akzeptabel, solange es sich irgendwie vermeiden ließ. Ein Angriff schied in seinem Zustand aus. Noch. So beschränkte er sich darauf, die teils neugierige, teils amüsierte Musterung regungslos zu erwidern.
»Sie wissen, wer wir sind?« Hamids Spott war unverkennbar.
»Ja, aber trotz Ihrer Berühmtheit brauchen Sie keine Angst zu haben, dass ich Sie mit der Bitte nach einem Autogramm belästige.«
Statt beleidigt zu reagieren, lachte Hamid. »Mut haben Sie. Vielleicht auch einen Namen, mit dem ich Sie anreden kann?«
Dann hatte seine Ärztin den Männern seinen Namen nicht verraten? Lucs Verwirrung wuchs, aber er konnte sich kaum nach der Beziehung der drei erkundigen. Da es nichts brachte, die Fronten durch unsinniges Schweigen zu verhärten, entschloss er sich zu einer Antwort. »Luc.«
»Also gut, dann beschränken wir uns auf die Vornamen. Ich bin sowieso kein Freund von Formalitäten. Ich heiße Hamid, das ist mein Bruder Kalil, und Jasmin hast du
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