Luc - Fesseln der Vergangenheit
verzichtete aber darauf, sich hinzusetzen. Jedes Zeitgefühl hatte ihn verlassen. Er konnte erst fünf, aber auch schon zehn Kilometer vom Dorf entfernt sein. Fluchend würgte er mit etwas Wasser einen Riegel hinunter. Kalil hatte recht behalten, Luc war in deutlich schlechterer Verfassung, als er sich eingestehen wollte. Trotz der kühlen Nachtluft klebte das Sweatshirt an seinem Rücken. Den Feuchtigkeitsverlust konnte er sich ebenso wenig erlauben wie lange Ruhezeiten. Ohne exaktes Ziel oder Vorstellung über die zurückzulegende Strecke, blieb ihm nur durchzuhalten. Der Trip durch die Nacht würde mörderisch werden, aber vielleicht hatte Hamid darauf gesetzt, dass er in den Bergen an Erschöpfung starb. Luc schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken. Es gab nur eine Sache, die er tun konnte: überleben und den Rest später klären.
Seine Wadenmuskeln begehrten mit einem scharfen Stechen gegen die Fortsetzung der nächtlichen Wanderung auf. Luc ignorierte die Schmerzen und musterte den vor ihm liegenden Hügel abschätzend, irgendwann würde sich hinter einer Erhebung die flache Ebene erstrecken und dann begann sein eigentliches Problem. Bei seiner Geschwindigkeit war absehbar, dass er den Rand der Berge frühestens in den Morgenstunden erreichen würde. Erst dann konnte er entscheiden, ob er sich besser ein Versteck suchte und auf die nächste Nacht wartete oder direkt weiterwanderte.
Der Punkt, an dem nur noch reine Willenskraft ihn vorwärtstrieb, kam schneller als erwartet. Keuchend kletterte er einen weiteren Hügel hinauf und wandte den Blick nicht von der langgezogenen, flachen Kuppe ab. Er konnte die Wahrheit nicht länger ignorieren: Oben angekommen benötigte er eine längere Pause als die wenigen Minuten, die er sich bisher zugestanden hatte.
Mit einem nicht länger unterdrückten Stöhnen ließ er sich neben einem Felsen auf den steinigen Boden fallen und tastete nach dem Stoffbeutel mit den beiden Wasserflaschen. Vielleicht sollte er dankbar sein, dass er ohne komplette Kampfausrüstung unterwegs war. Die zusätzlichen zwanzig Kilo hätte er kaum hochbekommen, geschweige denn einen Meter weit tragen können. In Gedanken malte er sich verschiedene Möglichkeiten aus, sich bei Warzai für die Misshandlungen zu revanchieren. Den Kerl aus dem Verkehr zu ziehen, stand jedenfalls weit oben auf seiner Prioritätenliste. Wichtiger war eigentlich nur die Klärung der Frage, was zwischen Jasmin und ihm war.
Die Augen geschlossen lauschte er den Geräuschen der Nacht. Ein Tier bewegte sich raschelnd durch ein trockenes Gebüsch. Ein Knacken, dann fiel ein Ast zu Boden. Irgendwo erklang ein heiserer Schrei, der sofort abbrach. Vielleicht ein Raubvogel, der eine Beute geschlagen hatte. In der wie ausgestorben wirkenden Natur gab es durchaus Lebewesen, und die Berge waren mit dem Sternenhimmel als Kulisse fast malerisch. Aber leider auch tödlich.
Erst als er einzuschlafen drohte, riss Luc sich zusammen und stemmte sich hoch. Außer einigen Felsen, die teilweise mannshoch aufragten, war die Hügelkuppe so breit und langgestreckt wie ein Fußballfeld. Wenn er sich nicht täuschte, waren die nächsten Erhebungen, die vor ihm lagen, bereits deutlich flacher. Zunächst musste er allerdings den steilen Abstieg von diesem Hügel hinter sich bringen. Ein Teil des Pfads war weggebrochen und die Geröllreste waren in der Tiefe zu erkennen. Damit blieb ihm entweder eine unangenehme Rutschpartie oder ein waghalsiger Sprung. Unschlüssig warf er sich das Gewehr über die Schulter. Ein leises Knirschen kündigte ein neues Problem an. Instinktiv ließ er sich fallen und presste sich angespannt lauschend eng an den Boden. Lautlos schob er sich langsam rückwärts und fluchte innerlich, als sich sein Verdacht bestätigte.
Zunächst sah er nur einen Schatten, dann erkannte Luc die Silhouette eines Mannes, der dabei war, die Kuppe zu erklimmen und bei dem Versuch zweimal abrutschte, ehe es ihm gelang. Ein Gewehr locker in der Hand, blickte der Typ sich flüchtig um und übersah Luc, der sich nicht bewegte und dem eine breite Furche in dem unwegsamen Boden ausreichend Deckung verschaffte.
Weder das Gewehr noch die dunkle Kleidung verhalfen Luc zu einer Einschätzung des Unbekannten. Eine Zugehörigkeit zu einer amerikanischen oder verbündeten Spezialeinheit kam ebenso in Frage wie ein Taliban oder einer der zahlreichen ausländischen Söldner, die mittlerweile gegen gute Bezahlung die Afghanen
Weitere Kostenlose Bücher