Lucas
seinen Kopf an meinem Bein.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Du würdest uns schon Bescheid sagen, wenn jemand hier wäre, nicht? Dom macht nur den Gegencheck, das ist alles.« Ich tätschelte ihm den Kopf. »Willst du nach draußen?« Ich öffnete die Haustür. Deefer erhob sich, warf einen Blick in den Regen und ließ sich wieder nieder. Ich schloss die Tür.
Nach ein paar Minuten kam Dom die Treppe herunter. Er hatte die nassen Sachen gewechselt und einen Baseballschläger in der Hand.
»Er gehört Dad«, sagte er als Antwort auf meinen fragenden Blick. »Er bewahrt ihn unter seinem Bett auf.«
»Glaubst du, wir brauchen ihn?«
Er zuckte die Schultern. »Eher nicht.«
Ich versuchte etwas Lustiges zu erwidern, damit nicht alles so finster klang, aber mir fiel nichts ein.
Mit Lustigsein war es fürs Erste vorbei.
»Ich werd mal meine Klamotten ausziehen«, sagte ich.
Dom nickte. »Ich mach den Kamin an und dann erledige ich ein paar Anrufe.«
Ich weiß nicht, ob es am Sturm lag oder einfach nur daran, dass ich so lange nicht mehr mit Dom allein daheim gewesen war, aber aus irgendeinem Grund kam mir alles im Haus verkehrt vor. Die Treppenstufen schienen steiler als sonst und die Decken zu hoch. Die Teppiche fühlten sich dünn und hart unter meinen Füßen an. Der Abend war zu dunkel, die Lampen zu grell, der Donner zu laut. Die Wände, die Fenster, der Fußboden . . . alles war leicht verzerrt wie Visionen in einem Traum.
Ein genau durchformulierter Gedanke trat in mein Hirn:
Das ist deine Welt, Cait. Sie ist kein Traum. Tausend Kilometer
sind
so viel wie ein Zentimeter. Das ist es. Die Welt wird elastisch.
Ich wusste nicht, was es bedeutete oder woher dieser Gedanke kam, und es war mir auch egal. Ich hatte es aufgegeben, irgendetwas verstehen zu wollen.
Ich ging in mein Zimmer und schälte mir die triefend nassen Kleider vom Körper. Regenböen schlugen gegen das Fenster und ich spürte einen kalten Luftzug, der durch die Vorhänge kam. Ich ging zum Fenster und sah nach. Es war geschlossen.Der Wind kam durch Fensterritzen. Ich drückte den Riegel noch weiter zu, dann holte ich ein Handtuch aus dem Schrank und trocknete mich ab. Ich roch nach Schweiß. Meine Haut war kalt, nass, schrumpelig und mit lauter winzigen feuchten Fusseln überzogen.
Ich ging an die Kommode und zog ein paar trockene Sachen heraus – da plötzlich sah ich die kleine hölzerne Figur auf meinem Bett. Es war die Schnitzerei, die Lucas mir geschenkt hatte, der Miniatur-Deefer. Er lag auf dem Bett, platsch in der Mitte, so als wäre er ganz gezielt dort platziert worden.
Hatte ich ihn dort hingetan?
Ich setzte mich auf die Bettkante und versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal im Zimmer gewesen war. Am Morgen . . . es war am Morgen gewesen. Ich war früh aufgestanden, hatte geduscht, mich angezogen, die Tierschutzbund-Sachen zusammengekramt . . . Hatte ich auch nach der Schnitzerei geguckt? Ich konnte mich nicht er innern. Normalerweise verwahrte ich sie in der Schublade meines Nachttischs, wo auch meine Unterwäsche lag. Hatte ich die Figur rausgenommen, als ich mich anzog? Ich nahm sie, drehte sie in meiner Hand und versuchte meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Von oben hörte ich, wie der Wassertank auf dem Dachboden tropfte – teck, tock, tock . . . teck, tock, tock . . . teck, tock, tock – wie eine zögernde Uhr. Es war ein eigenartig hypnotisierendes Geräusch. Während ich lauschte und die geschnitzte Figur in meiner Hand anstarrte, trieben meine Gedanken durch die Decke und ich stellte mir die kalte Zugluft und den Geruch nach Ruß undaltem Holz auf dem Dachboden vor. In meinem Kopf sah ich die dunklen Balken und vernarbten Sparren und dazu das Licht, das durch die gebrochenen Schieferpfannen schimmerte. Ich konnte hören, wie der Regen auftickte und der Wind unter der vorspringenden Dachkante heulte . . . und auf einmal war ich dort. Ich war wieder Kind und spielte allein in meiner Dachbodenwelt. Es war eine Welt aus staubigen Dingen, die von den Balken hingen oder in Ecken herumstanden: Seilrollen, formlose Taschen, alte Mäntel, Pappkartons, Holzstücke, Teppichrollen, Farbdosen, kaputte Koffer, mit Bindfaden zusammengehaltene Stapel vergilbter Zeitungen . . . Es war eine Welt, die genau so war, wie ich sie wollte. Ich konnte mir aus einem alten Betttuch, das ich über die Balken drapierte, ein Versteck bauen und so tun, als wäre ich auf einer einsamen Insel gestrandet oder hätte mich im
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