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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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waren. Wir haben kein bisschen Lärm gemacht oder sonst was und wir waren ganz schön weit weg . . . ich versteh nicht, wieso er von uns wusste. In meiner Erinnerung sehe ich nur diese blauen Augen, die mich durch das Fernglas anblickten . . .« Ihre Stimme verlor sich und sie starrte auf den Fußboden.
    »Was ist dann passiert?«, fragte ich leise.
    Sie blickte auf. »Er ist einfach verschwunden. Das war so gruselig. Ich muss einen Moment weggeguckt haben . . . unmögliche Vorstellung . . . aber es muss wohl so gewesen sein. Im einen Moment war er noch da – und im nächsten war er verschwunden.«
    Ich starrte auf den leeren Computerbildschirm und stellte mir das Gesicht des Jungen vor – die Augen, das Lächeln – und ich erinnerte mich plötzlich an die geisterhafte Stille, als ich ihn auf dem Damm zum ersten Mal sah, als meine Haut prickelte . . .
    »Sie glauben, er haust irgendwo im Freien«, sagte Bill.
    »Wer?«
    »Der Zigeuner.«
    »Wer sagt das?«
    »Keine Ahnung, hab’s nur gehört. Er ist ein paarmal in der Nähe des Dorfs gesehen worden. Hat ein paar Sachen beim Pakistani gekauft – Tabak, Streichhölzer, Seife. Offensichtlich hat er sich beim alten Joe Rampton ein bisschen Geld verdient. Gelegenheitsjobs wie Hühnerstall ausmisten, paar Wände streichen . . .« Sie lachte. »Joe hat ihm für den ganzen Tag Arbeit einen Fünfer gegeben. Allerdings hab ich gehört, er soll auch klauen . . .«
    Joe Ramptons Farm liegt von uns aus genau hinter den Feldern. Man kann sie vom Haus zwar nicht sehen, sie wird von einem flachen Hügel verdeckt, doch wenn man sich auf die Brücke über die Bucht stellt, ist das Farmhaus gerade so eben zwischen den Bäumen des spirreligen Walds zu erkennen, der sich von unserem schmalen Weg bis zu Joe . . .
    »Ich meine, sie sind ja dafür bekannt, stimmt’s?«
    »Was ist los?«
    »Zigeuner – die klauen doch immer.«
    »Ja?«
    Sie antwortete nicht, sondern kaute nur ihr Kaugummi, kratzte sich den Bauch und schaute sich in der Bücherei um, als wäre es der armseligste Ort der Welt.
    Ich hasste sie dafür.
    Früher, als wir noch klein waren, waren Bill und ich immer zusammen hergekommen. Wir waren hier glücklich gewesen. Manchmal hatten wir Stunden in diesem Raum verbracht, hatten in Büchern geblättert, uns leise unterhalten, gekichert und Spaß gehabt . . . Mein Gott, wir fanden unsere Ausflüge in die Bücherei immer total aufregend . . .
    War das so lange her?
    Ich schaute Bill an. Ja, ich begriff, es war lange her. Es war eine Ewigkeit her.
    »Ich muss los«, sagte ich und sah hinüber zu Dad. Er wartete an der Tür, die Kopien fest in der Hand, und schaute zur Decke.
    Ich stand auf.
    Bill sagte: »Ruf mich an, wenn du Zeit hast, ja?«
    Ich murmelte irgendwas Unverbindliches, ehe ich ging.
     
    Dad hat mir mal erzählt, dass der Wind Zauberkraft besitzt und einem, wenn man nur genau genug zuhört, das erzählt, was man hören möchte. Ich weiß nicht, ob ich an Magie glaube – ich weiß nicht mal, ob man an Magie glauben
kann
–, aber als ich an jenem Abend im Bett lag, war ich bereit es auszuprobieren.
    Ich schloss die Augen, hielt mich absolut still und lauschte. Es war nur eine ganz leichte Brise und zuerst konnte ich sie kaum von den anderen Geräuschen der Nacht unterscheiden – dem Knarren und Summen des Hauses, dem gelegentlichen Geräusch eines Autos in der Ferne, der schwachen Brandung am Strand. Aber je länger ich horchte, desto deutlicher wurde sie und nach einer Weile konnte ich die unterschiedlichen Geräusche erkennen, die aus den verschiedenen Bäumen kamen – ein trockenes Rascheln aus der Ulme im Garten hinter dem Haus, ein Rauschen der Blätter aus den Pappeln am Weg und von der alten Eiche im Feld hinter unserem Grundstück ein müdes Stöhnen, wie wenn ein alter Mann aus einem Sessel aufsteht. Es gelang mir sogar, den Unterschied zwischen der Brise von See und dem Wind von Land herauszuhören. Die Meeresbrise wirkte irgendwie sanft und unangestrengt, fast wie das schwache Rollen der See selbst. Wogegen der Wind, der von der Insel kam, turbulenter war und durch die Bäume jagte, als ob er irgendein wichtiges Ziel hätte.
    Aber sosehr ich auch horchte, so genau ich auch lauschte, der Wind in den Bäumen erzählte mir nichts.
    Vielleicht habe ich einfach nicht genügend magische Kräfte.
     
    Ich brachte immer noch nicht den Mut auf, wieder an den Strand zu gehen. Am Donnerstag fing es an, mich richtig zu ärgern. Es gab ziemlich viel Spannung zu

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