Lucas
ein richtig gutes Picknick.«
Er legte sich zurück ins Gras.
Ich hielt mir wieder das Fernglas vor die Augen.
Der Regen nahm zu. Der Wind wurde schneidend. Und die See tobte. Am Fuß der Klippen krachten die Wellen gegen die zerklüfteten Felsen und schleuderten schmutzig weiße Gischtfontänen hoch.
Die führenden Flöße machten gerade ihre Kehre um die Wendeboje, als das kleine Mädchen über Bord ging. Von hier oben sah es nicht sonderlich gefährlich aus – jedenfalls zu Anfang nicht. Eher hatte der Sturz etwas Komisches, so wie die Szenen bei
Versteckte Kamer a
. . . wenn man so was komisch findet. Ich bekam es kaum mit. Denn ich hatte das Fernglas unten und beobachtete, als das Mädchen eintauchte, die Flöße nur halb. Das Einzige, was ich sah, war eine kleine Gestalt, die von einem fernen Floß taumelte. Es spritzte nicht stark, man hörte kein Rufen, kein Schreien, nichts, was andeutete, dass hier irgendetwas schrecklich
schief
ging. Ich dachte zuerst, es wäre eine Frau gewesen. Im Unterbewusstsein musste ich anscheinend den Bikini registriert haben, die vertraute Bikiniform, deshalb hatte ich wohl angenommen, es sei eine junge Frau. Aber als ich das Fernglas vor die Augen hielt in der Erwartung, ein lächelndes Gesicht zu sehen, dass zum Floß zurückschwamm, um dort von lachenden Freunden an Bord gezogen zu werden, entdeckte ich stattdessen das entsetzte Gesicht eines zehnjährigen Mädchens, das sich allein in den Wellen abstrampelte.
»Dad«, sagte ich in dringlichem Ton. »Da ist ein Mädchen im Wasser. Sie ist reingefallen.«
Er setzte sich blitzschnell auf. »Wo?«
Ich reichte ihm das Fernglas. »Bei der Wendeboje«, sagte ich. »Das Mädchen war auf dem Floß mit der blauen Flagge . . . warum halten die denn nicht an?«
Dad stand auf, um besser sehen zu können.
Auch ich stand auf. Ich sah, wie das Mädchen in Panik mit den Armen ruderte und wild um sich schlug, als die Wellen sie unter Wasser drückten. Die Strömung trieb sie von den Flößen fort auf die Klippen zu.
»Warum halten die denn nicht
an
, Dad?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht haben sie’s gar nicht bemerkt.«
Sie kam immer dichter an die Felsen. Der Regen peitschte herab und wühlte die See auf. Der Himmel war schwarz und schwer. Auf einmal merkte ich, wie dunkel es war. Als Dad und ich an die Spitze der Klippe rannten, um besser sehen zu können, rumpelte es in den Wolken, dann erschütterte ein Donner die Luft.
Dem Mädchen gelang es, sich über Wasser zu halten, indem es seine Arme wie Windmühlen kreisen ließ. Aber ich sah, dass es langsam müde wurde. Jedes Mal, wenn sich eine große Welle brach, tauchte der Kopf unter. Ich schaute nach den Leuten am Strand und auf den Klippen. Sie standen alle bloß da und sahen zu.
»Warum
tun
die denn nichts?«, rief ich.
Dad legte die Hände an den Mund und brüllte: »
Hey! Helft ihr! Sie braucht Hilfe! Sie kann nicht schwimmen! Hey! HEY!«
Aber die Worte wurden vom Tosen des Sturms und der See überdröhnt. Die Menschen unter uns schauten weiter zu, einige von ihnen deuteten gelegentlich aufs Meer, so als wäre das, was mit dem Mädchen passierte, Teil des Wettkampfs.
Inzwischen wurde sie weiter in Richtung der Felsen gespült.
Ich habe seither viel drüber nachgedacht und ich verstehe immer noch nicht, warum sie nichts unternommen haben. Vielleicht hat von da unten alles anders ausgesehen. Vielleicht dachten sie, das Mädchen sei okay, es ginge ihm gut und es würde nur rumalbern. Vielleicht wollten sie sich nicht lächerlich machen und umsonst zu ihrer Rettung ins Wasser springen, wo die Kleine in Wahrheit die ganze Zeit gar nicht in Gefahr war . . . wie peinlich
das
wäre. Vielleicht waren sie zu entsetzt. Vielleicht warteten sie auf den Rettungsschwimmer. Aber vielleicht war es ihnen auch einfach egal.
Ich weiß es nicht.
Ein weiteres Donnergrollen erschütterte den Himmel. Dad brüllte wieder und versuchte seiner Stimme gegen den Wind Gehör zu verschaffen, doch es war aussichtslos. Ich lief zur rechten Seite der Klippe und schaute durch den Regen nach unten auf das Felsenriff, wo Tait und die andern beisammenstanden. Jamie ist doch ein guter Schwimmer, dachte ich, er könnte ihr helfen. Und als ich sah, dass er bereits an der Felskante stand und sich den Pullover auszog, spürte ich eine Woge der Erleichterung. Endlich unternahm einer was.
Das Mädchen kam inzwischen nahe an die Felsen heran. Ich konnte ihr Gesicht durch das
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