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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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sich Sara von ihm gelöst, sie stand ein bisschen abseits von den andern und studierte die Menge. Ihr Gesicht war wieder erfüllt von dieser seltsamen emotionslosen Leidenschaft, die ich schon vorher bei ihr registriert hatte – als ob für sie alles nur ein Spiel, ein distanziertes Spiel wäre. Das Spiel der Menge, die Dynamik der Menge . . .
    Die Menge . . .
    Menschenmengen sind seltsame Gebilde. Eine Menge hat ein eigenes kollektives Bewusstsein, ein Bewusstsein, das die Empfindungen seiner einzelnen Teile ignoriert und aus den niedersten Leidenschaften gedeiht. Die Menge hatte gesehen, was passiert war, alle hatten Lucas ins Wasser springen sehen, um das Mädchen zu retten, sie kannten die Wahrheit – aber in der Menge ist die Wahrheit schnell vergessen. Die Leidenschaft, mit der die Frau aufgetreten war, hatte im Bewusstsein der Menge Zweifel gesät. Das kollektive Bewusstsein gewann die Oberhand. Ich sah, wie es umschlug. Ich sah die Art, wie sie Lucas anschauten, und konnte mir ihre Gedanken vorstellen –
Na ja,
irgendwie
muss er doch etwas Unrechtes getan haben. Warum sonst wäre die Mutter des Kindes so wütend geworden? Schau ihn dir an, schau in seine Augen – er hat Angst. Der Junge hat Angst. Wenn er nichts getan hat, warum hat er dann Angst? Ja, er muss etwas Unrechtes getan haben
. . .
    Lucas entfernte sich langsam und ging zu den Felsen zurück, aber das verschlimmerte nur die Lage – es war wie ein Eingeständnis seiner Schuld. Die Menge schien das zu spüren, sie gewann eine Stimme und das gab der Mutter des Mädchens mehr Selbstsicherheit, so dass sie von neuem zu schreien begann. »Glaub ja nicht, dass du so einfach davonkommst, du dreckiger kleiner
Perverser
. Ich habe dich gesehen, alle haben gesehen, was du getan hast – ich schick dir die Polizei auf den Hals. Ja – mach nur, genau, lauf weg. Jetzt fühlst du dich nicht mehr so stark, was?« Sie spuckte in den Sand. »Gott, solche Leute wie du machen mich
krank
. Ich hol die Polizei . . .«
    Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Sand und Regen wirbelten in Böen durch die Luft und färbten den Himmel grau. Ich schaute durch den Dunst nach unten und sah, wie Lucas leise zwischen den Felsen am Fuß der Klippe verschwand. Die Frau rief ihm immer noch hinterher. Die Menge schaute immer noch zu. Aber wenigstens verfolgte ihn niemand.
    Wenigstens verfolgte ihn niemand
. . .
?
    Ich konnte nicht glauben, was ich da dachte. Er hatte das Leben des Mädchens gerettet, während alle anderen nichts unternommen hatten. Er hatte ihr Leben gerettet . . . und jetzt seufzte ich erleichtert, weil
ihn niemand verfolgte
?
    Es war unglaublich.
    »Ich muss mit ihm reden«, sagte ich und wollte gehen.
    Dad hielt meinen Arm fest. »Brrr – nicht so schnell.«
    »Ich muss mit ihm reden, Dad. Du hast doch gesehen, was passiert ist   –«
    »Halt die Luft an, Cait. Beruhige dich.«
    »Aber ich muss hinter ihm her   –«
    Er sah mir in die Augen. »Beruhige dich einen Moment. Schau mich an . . .« Seine Stimme klang ruhig. Regen tropfte von seinen Augenbrauen. »Cait . . . schau mich an. Du gehst nirgendwohin, ehe du mir nicht sagst, was los ist.«
    »Nichts ist los.«
    »Woher kennst du diesen Jungen?«
    »Ich hab keine
Zeit
, Dad   –«
    »Nimm dir die Zeit«, sagte er ruhig.
    Ich sah ihm in die Augen und seufzte. »Ich hab ihn gestern am Strand getroffen. Wir haben geredet . . . wir haben über verschiedene Dinge geredet. Er ist anständig, Dad. Es ist nicht fair   –«
    »Wo am Strand?«
    »In der Nähe der Bucht, draußen am Point . . . er hat Krebse gefangen.«
    »Krebse?«
    »Wir haben nur miteinander geredet . . . er ist genauso wie . . .«
    »Genauso wie was?«
    Ich wollte sagen, er ist genauso wie du. Aber das klang nicht richtig, also ließ ich es. Ich sagte: »Du würdest ihn mögen, wenn du ihn kennen lerntest. Er ist anständig, Dad. Ehrlich. Du hast gesehen, was er gemacht hat. Das kleine Mädchen wäre ertrunken, wenn er nicht gewesen wär. Kein anderer hat etwas unternommen. Und dann kommt diese dämliche Frau   –«
    »Du darfst ihr das nicht vorwerfen, Cait. Sie hat nur versucht ihre Tochter zu schützen.«
    »Aber Lucas hat nichts getan   –«
    »Ich weiß, Kleines.« Er drückte meine Hand. »Mach dir keine Sorgen – ich rede mit ihr. Ich werde ihr erklären, was geschehen ist. Ich bin sicher, sie wird es begreifen.«
    »Redest du gleich mit ihr?«
    Er dachte einen Moment nach, dann nickte er.
    Ich sah ihn an. »Ich muss hinter ihm

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