Lucas
Fernglas deutlich erkennen. Es war blass und von Angst gelähmt. Selbst wenn sie die Felsen mied, würde die Strömung sie in einen der Strudel reißen, die sich vor den Klippen bildeten.
Ich schaute wieder nach Jamie. Er hatte sich nicht gerührt. Sara stand mit merkwürdig eiskaltem Gesicht neben ihm. Ich hätte schwören können, sie lachte ihn aus.
Ich rief hinunter: »Worauf
wartest
du?«
Ob es daran lag, dass sich die Klippe auf dieser Seite ein klein wenig senkt, ob es mit der Tatsache zusammenhing, dass meine Stimme etwas höher ist als die von Dad, oder ob sich einfach der Wind einen Moment legte . . . ich weiß es nicht. Aber Jamie hörte mich plötzlich. Ich glaube nicht, dass er meine Stimme erkannte, er hörte einfach ein Rufen und sah nach oben. In dem Moment, als er es tat, wusste ich, warum er sich nicht gerührt hatte – er hatte Todesangst. Er war starr vor Entsetzen. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Gesicht weiß. Ich verlor alle Hoffnung. Er würde nichtstun. Er rührte sich nicht. Mit glasigem Blick wandte er sich wieder dem Meer zu. Er würde da auf gar keinen Fall reinspringen. Nicht in hundert Jahren. Das Meer war zu aufgewühlt, zu unvorhersehbar. Es war zu . . .
In der Ferne hatte inzwischen die ganze Flottille der Flöße die Boje umrundet und steuerte wieder zurück zur Bucht. Der Sturm trieb sie dicht vor die Küste. Einige Wettkämpfer hatten beschlossen aufzugeben und zogen ihr Floß auf den Strand.
Dad brüllte immer noch, aber seine Stimme wurde schwächer und der Wind immer lauter. Die Menschen unter ihm hörten ihn nicht. Jamie Tait hörte ihn nicht. Und selbst wenn er ihn gehört hätte, hätte das nichts genützt. Er hatte die Schotten dichtgemacht vor der Welt und stand mit nacktem Oberkörper hilflos am Rand des Riffs, ein verlegenes Grinsen im Gesicht. Hinter ihm schaute Sara zu und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette.
Das Mädchen war jetzt fast auf Höhe der Felsen. Sie hatte aufgehört zu kämpfen und trieb mehr oder weniger wie eine voll gesogene Stoffpuppe im Wasser. Die Strömung hatte sie auf die linke Seite des Riffs gerissen, dorthin, wo es die gefährlichen Strudel zwischen den Felsen gab.
Ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Alles, was ich tun konnte, war dastehen und zusehen, wie die Strudel sie nach unten ziehen würden.
Plötzlich hörte ich ein einzelnes kurzes Bellen von Deefer. Während des ganzen Donnerns, Schreiens und Herumrennens hatte er sich nicht gerührt. Immer noch saß er starr an der äußersten linken Kante der Felskuppe und sah hinab aufden Strand. Ich kenne die meisten seiner Arten zu bellen – das warnende Bellen, das glückliche Bellen, das wütende Bellen, das Kaninchenbellen –, aber dieses hatte ich noch nie gehört. Es hatte einen eigenartigen Klang – nicht laut, aber erstaunlich klar, fast wissend. Irgendetwas lag darin, das meinen Mut wieder steigen ließ.
Als die Klippe das Echo dieses einzelnen kurzen Bellens zurückwarf, schaute ich hinab und sah ein grünes Etwas über den Strand sausen.
»
Lucas!
«, stieß ich hervor.
Dad sah mich an.
»Da!«, zeigte ich. »Es ist Lucas.«
Lucas war auf den Felsen am Fuß der Klippe, er sprang von einem zum andern wie eine Gebirgsziege, drehte sich dann knapp unterhalb des scharfkantigen Riffs um und lief aufs Meer zu. Ich hatte noch nie gesehen, dass sich jemand so schnell bewegte. Barfuß, seine Kleidung durchnässt, seine Haare vom Regen angeklatscht, sah er aus wie etwas aus einer anderen Welt und bewegte sich auch so.
Nur am Rande bemerkte ich, dass sich Köpfe drehten und Finger streckten. Ich hörte, wie Dad sagte: »Verdammt, was . . .?« Und dann tauchte Lucas vom Fuß der Klippe aus ins Wasser und schwamm zu dem Mädchen, er schnitt durch die Wellen wie ein Torpedo. Das Ganze schien in null Komma nichts abzulaufen. Zwischen dem Moment, als ich ihn sah, und dem Moment, als er das Mädchen erreichte, konnten höchstens zwanzig Sekunden vergangen sein. Es wirkte alles so einfach, so ruhig. Ohne zu zögern schob er sich das Mädchen unter den Arm, drehte auf der freien Seitebei, schwamm einhändig Richtung Ufer und hielt schließlich auf eine winzige sandige Bucht rechts des Riffs zu.
»Jesses . . .«, sagte Dad und schüttelte den Kopf vor Bewunderung.
Ich schaute zu ihm. »Er heißt Lucas.«
»Lucas?«
»Der gut aussehende Junge von der Brücke . . . erinnerst du dich?«
Wir sahen uns einen Augenblick an. Es lagen hundert Fragen in seinem Blick, aber wir
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