Lucas
wussten beide, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, sie zu stellen. Gemeinsam wandten wir unsere Aufmerksamkeit wieder dem Strand zu, wo Lucas mit dem Mädchen unter dem Arm aus den Wellen stieg. Der Sturm hatte sich plötzlich gelegt. Es regnete zwar noch, aber der Wind hatte aufgehört zu heulen und die Luft war still. Menschen hatten sich auf dem Felsvorsprung über dem Strand versammelt und schauten mit fassungslosen Gesichtern zu –
Wer ist das? Woher kam er? Was macht er?
Lucas schien sie nicht wahrzunehmen. Er legte das Mädchen in den Sand und kniete sich daneben. Das Mädchen sah blass und schwach aus, aber sie hatte die Augen geöffnet. Ich sah, wie sich ihr Kopf bewegte. Der traurige kleine schwarze Bikini war von den Wellen in alle Richtungen gezerrt worden. Das Oberteil hing verdreht über der einen Schulter, das Unterteil auf halber Höhe um ihre Schenkel.
Wenn sie körperlich in bedenklicherer Verfassung gewesen wäre, hätte sich Lucas vielleicht gar nicht darum gekümmert, sie wieder anständig aussehen zu lassen. Dann hätte er sie einfach in eine sichere Körperlage gebracht und mit derkünstlichen Beatmung begonnen. Aber sie
atmete
ja. Sie würgte und spuckte nicht mal und es schauten Menschen zu. Was konnte es also schaden, ihren Körper zu bedecken und sie anständig aussehen zu lassen?
Was konnte
das
schaden?
Eigentlich nichts – wenn nicht die Mutter des Mädchens genau in dem Moment am Strand aufgetaucht wäre, als er die Teile des Bikinis behutsam wieder an ihren Platz rückte.
Plötzlich erscholl ihre wütende Stimme: »
Was machst du da? Lass sie los! LASS MEINE TOCHTER LOS!
«
Sechs
A ls Lucas den Klang ihrer Stimme hörte, schaute er auf. Die Frau stürzte über den Sand auf ihn los, ihre Augen traten hervor, ihr glattes Haar wehte im Wind und ihr Gesicht war wutverzerrt. Sie schwang ein zusammengerolltes Regatta-Programm in der Hand und schrie.
»
DU PERVERSER! . . . LASS SIE LOS! . . . MACH SCHON! . . .
«
Lucas war zu schockiert, um sich zu rühren. Nass bis auf die Haut, das Mädchen zitternd neben sich, starrte er die Frau mit einem benommenen Blick verwirrter Unschuld an . . . Was? Was ist passiert? Was habe ich getan? Was war
falsch
?
Die Frau kam näher. »Lauf weg, Kylie . . . lauf ganz schnell weg von ihm . . .
JETZT!
«
Das Mädchen war noch völlig fertig und verängstigt. Das plötzliche Kreischen der Stimme ihrer Mutter ließ sie sich in Lucas’ Arme verkriechen. Er reagierte instinktiv mit einer sanften Umarmung und einem beruhigenden Lächeln – da schlug ihm die Frau mit dem zusammengerollten Programm auf den Kopf.
»Lass sie
LOS
!«, zischte sie ihm ins Gesicht.
Auf dem Riff lachte jemand nervös.
Lucas stand auf und trat zurück.
»Ich hab ihr nicht wehgetan«, sagte er schlicht.
Die Frau schlug ihn wieder, dann zerrte sie den Bikini ihrer Tochter zurecht und zog sie danach hinter sich her den Strand hinauf, während ihr kalter Blick Lucas weiter fixierte. »Du – ich weiß, was du für einer bist. Du dreckiger kleiner
Bastard!
«
Lucas war sprachlos. Er schaute sich mit offenem Mund um und sah die Menschen auf dem Riff an. Sie blickten mit toten Augen zurück und sagten nichts.
Während all das geschah, stand ich nur da und schaute hinunter, viel zu betäubt, um irgendetwas zu unternehmen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit hatte mich ergriffen und entzog mich dem Augenblick. Es war, als würde ich einen Film oder ein Theaterstück sehen. Es geschah, es war da, aber ich war nicht beteiligt. Ich konnte nicht mitmachen. Ich war zu weit weg. Das Einzige, was ich tun konnte, war ungläubig hinabschauen, während sich die Alptraumszene am Strand immer weiter zuspitzte.
Die Frau zog sich zurück und wich, als sie oben am Strand angekommen war, atemlos und mit wildem Blick nicht mehr von der Stelle. Ihre Tochter stand neben ihr. Sie weinte, zitterte und zog ständig an den Trägern ihres Bikinis. Sie konnte einem Leid tun. Die Leute auf dem Riff begannen untereinander leise zu reden. Sie waren inzwischen auf zwanzig oder dreißig Personen angewachsen. Angel, Brendell und Bill konnte ich nicht entdecken, aber Jamie und Sara sah ich amhinteren Ende stehen. Jamie hatte seinen Pullover wieder angezogen und er schien auch seine Haltung wieder gefunden zu haben. Er hatte sich jetzt unter Kontrolle. Er sprach ganz ruhig mit einem jungen Paar aus dem Dorf, deutete dabei zum Strand hinüber, erklärte etwas und schüttelte besorgt den Kopf. Währenddessen hatte
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