Lucas
gibt auch noch die Strecke über den Deich, der unterhalb des Parks liegt. Wenn man diesen Weg nimmt, muss man ungefähr einen Kilometer am Strand entlang, bis man eine natürliche Lücke in der Klippenwand erreicht. Dort braucht man nur noch einen Lehmwall hinaufzusteigen und schon ist man auf dem Hauptweg entlang der Klippen. Der Weg ist zwar länger, aber auch stiller. Die Gefahr, dort jemandem in die Arme zu laufen, den wir nicht treffen wollten, war deutlich geringer.
Deutlich geringer heißt aber nicht ausgeschlossen. Als wir eben den Deich überqueren wollten, hörten wir plötzlich über uns eine unwillkommene Stimme rufen: »Hey, was macht ihr denn da unten? Ihr versäumt ja den ganzen Spaß.«
Wir schauten beide nach oben und sahen Jamie Tait und Sara Toms, die sich auf dem vier Meter hohen Deich über das Geländer beugten. Jamie war lässig gekleidet, er trug einen Pullover mit V-Ausschnitt , dazu Jeans, aber Sara hatte offenbar Lust am Verkleiden gehabt und sich so in Schale geworfen wie ein Mädchen auf dem Cover eines Hochglanzmagazins:enges schwarzes Kleid, Seidenstrümpfe, hohe Absätze, Handschuhe aus schwarzer Spitze, Perlenkette und ein eleganter schwarzer Hut mit Schleier. Ich hatte keine Ahnung, was sie genau
darstellen
wollte, vermutlich wusste sie es selber nicht – aber sie konnte es jedenfalls tragen. Während sie da oben stand und auf uns herabschaute, trieb der Duft ihres Parfüms, von einer Bö getragen, an uns vorbei: Chanel No. 5 – der Duft des Reichtums.
Lee Brendell stand etwas abseits, rauchte eine Zigarette und starrte mürrisch aufs Meer. Im Hintergrund sah ich Saras Eltern, die sich mit ein paar alten Damen auf einer Bank unterhielten. Bob Toms, Saras Vater, hatte seine Polizeiuniform mit sämtlichen glänzenden Abzeichen und Ordensbändern an.
Jamie schleckte an einem Eis. Sein Gesicht war rot. Ich vermute, er war ein bisschen betrunken.
»Komm rauf in den Park, Johnny«, rief er Dad grinsend zu. »Da oben gibt’s alles – Eis, schicke Kleider, Zuckerwatte, kaltes Bier –, was sich ein lebenslustiger Mann nur wünschen kann.« Er sah mich an. »Soll ich dir ein bisschen Zuckerwatte holen, Cait?«
Sara warf ihm ein böses Lächeln zu, dann schaute sie herunter und schenkte mir einen bösen Blick. Böse Blicke werfen konnte sie gut. Sie hatte einfach das perfekte Gesicht dazu: hohe Stirn, langes, schwarz glänzendes Haar, einen harten, mit Lippenstift angemalten Mund, Porzellanhaut und stechende grüne Augen. Ihr Gesicht war so schön, dass es fast hässlich war.
»Komm, Cait«, sagte Dad ruhig.
Er nahm meinen Arm und führte mich weg.
Jamie rief ihm hinterher: »Hey, Mac – wo ist Dominic? Wo steckt der Junge?«
Dad blieb stehen. Ich spürte, wie er innerlich erstarrte.
Sara lachte – ein schrecklich geziertes Lachen – und sagte: »Wahrscheinlich zu Hause im Schlafzimmer eingesperrt, weil er ein böser Junge war.«
»So wie
ich
Dominic kenne, ist er eher bei jemand
anderem
im Schlafzimmer eingesperrt«, setzte Jamie noch einen drauf.
Dad sagte nichts, er sah die beiden nur an. Sie starrten mit spöttischem Ernst zurück. Sara hob verächtlich ihre Zigarette an die Lippen und nahm einen Zug, dann hakte sie ihre Hand hinten in Jamies Gürtel ein. Sara gehört zu der Sorte Mädchen, die klammern und ihre Zuneigung – oder ihren Besitzanspruch – dadurch zeigen, dass sie den Partner ständig befummeln. Jamie schien das zu gefallen. Während sie noch dastanden und anzüglich auf uns herabschauten, tauchten neben ihnen plötzlich ein Augenpaar mit dicken Brauen und eine strenge Schirmmütze auf.
»Guten Tag, John«, sagte Bob Toms. »Hallo, Cait.« Er schaute gen Himmel und rieb sich die Hände. »Sieht nicht besonders gut aus.«
»Von hier aus nicht«, antwortete Dad.
Toms lächelte verkniffen. »Schön, dich zur Abwechslung einmal draußen zu sehen. Solltest du öfter machen.«
Dad nickte. »Ich sehe,
du
hast dich ja wirklich ins Zeug gelegt.«
»Wie meinst du das?«
»Dein Aufzug . . . das ist der beste Heinrich Himmler, den ich seit langem gesehen habe.«
Tom sah an seiner Uniform herab. »Sehr komisch.«
Dad warf einen Blick auf Brendell und Tait. »Und hast dir sogar die Mühe gemacht, ein paar S A-Leute mitzubringen, damit es noch authentischer wird. Das nenne ich Detailtreue.«
»Immer noch der alte Witzbold, wie ich sehe.«
»Wer macht hier Witze?«
Während das ständig so weiterging, hatte Brendell seine Aufmerksamkeit vom Meer
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