Lucas
her, Dad. Bevor es zu spät ist . . .«
»Zu spät wofür?«
Ich starrte über den Strand. Der Regen ergoss sich in dichten Schwaden, die die Landschaft in ein undeutliches farbloses Bild verwandelten. Ich konnte noch gerade die Umrisse der Klippen erkennen, alles andere war nur noch ein graues Laken. Keine Perspektive, keine Höhe, keine Weite, kein Himmel, kein Meer, kein fester Boden . . . nur noch eine wabernde Regenwand.
»Wohin geht er?«, fragte Dad.
»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Vielleicht in den Wald auf der kleinen Insel.«
»Gegenüber dem Point?«
Ich nickte.
Er schüttelte den Kopf. »Da gehst du nicht hin.«
»Wenn ich jetzt gehe, kann ich ihn noch am Strand einholen.«
Dad schaute zögernd.
»Bitte«, bettelte ich. »Ich will nur mit ihm reden . . . es dauert nicht lange. Ich will nur sicher sein, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Bitte . . .«
Wenn ich heute daran zurückdenke, merke ich, was für eine schwierige Entscheidung es für Dad war. Logisch gesehenhätte er Nein sagen müssen. Sein ganzes Gefühl musste von ihm verlangen, Nein zu sagen. Warum, verflucht noch mal, sollte er seiner fünfzehnjährigen Tochter erlauben, mitten in einem Unwetter einem fremden jungen Mann hinterherzulaufen? Warum sollte er ihr vertrauen?
Warum?
Weil er sie liebte.
»Dann geh«, sagte er schließlich. Es lag eine Spur von Traurigkeit in seiner Stimme und für einen kurzen Moment überlegte ich, doch nicht zu gehen. Es war rücksichtslos, unfair, es war dumm und egoistisch . . . Aber dann wischte mir Dad einen Regentropfen von der Wange und lächelte. »Enttäusch mich nicht, Cait. Ich setze mehr Vertrauen in dich, als ich mir leisten kann zu verlieren.«
»Mach dir keine Sorgen, Dad.« Ich küsste ihn. »Danke.«
»Gut, dann gehe ich jetzt mal besser und rede mit der verrückten Dame. Und du nimmst den Hund mit. Ich warte zu Hause auf dich . . . Wenn du um sechs nicht zurück bist . . .«
Ich hörte den Rest nicht mehr, denn ich hatte die Wiese schon halb überquert.
Ein vom Unwetter durchnässter Strand hat etwas Erhebendes an sich. Trotz der ganzen durcheinander wirbelnden Gefühle, die mich innerlich aufwühlten, konnte ich nicht anders als lächeln, während ich mit Deefer an meiner Seite über den Sand lief und die Wellen ans Ufer krachten und der Wind im Regen sein Lied heulte. Es spendete Kraft, ich hätte schreien und fliegen mögen. Der Strand war unwirtlich und verlassen. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass ich die einzigePerson auf der Welt sei und über den einzigen Strand auf der Erde lief, am Fuß der einzigen Klippen entlang, am Ufer des einzigen Meers . . . So musste es vor hunderttausend Jahren gewesen sein, dachte ich. Keine Menschen, keine Autos, keine Blaskapellen, keine Spiele, kein Hass, keine verwirrten Gefühle . . . einfach nur dies, die Jahreszeiten, der Himmel, Regen und Wind und Gezeiten . . . Dinge ohne gewachsenen Geist. Nichts zum Erinnern, nichts zum Besitzen. Licht. Dunkelheit. Ein Herzschlag. Keine Wörter zum Nachdenken. Keine unnatürliche Erregung. Nichts als die Vermeidung von Kälte und Hunger. Kein morgen. Keine Namen, keine Geschichte, kein Ziel, wohin. Und nichts zu erledigen.
Nichts zu erledigen, außer zu laufen.
Ich lief.
Den Klippenweg hinunter, über Zäune und Wasserläufe, über den westlichen Strand unterhalb der Klippen, dann über den Deich und schließlich weiter auf die Ostseite des Strands, wo der Sand sich in Kiesel verwandelt, die beruhigend unter meinen Füßen knirschten.
Jetzt fühlte ich mich zu Hause.
Das war meine Welt, mein Strand, meine Insel.
Das war meine Zeit.
Ich verlangsamte meinen Lauf und fiel in ein Gehen, bis ich auf einem höher gelegenen Stück Land nahe bei den Salzwiesen landete, wo das Vorwärtskommen leichter fiel. Deefer folgte mir. Sein Fell hatte sich gegen den Wind aufgestellt und war vom Regen dunkler geworden. Wie er mit heraushängender Zunge, die Augen scharf in den Wind gerichtet, am Wasser entlangtrabte, wirkte er wie ein Urzeittier.
Auf halbem Weg den Strand entlang blieb ich stehen, um mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Ich wusste nicht, ob es Regen oder Schweiß war.
Der Sturm legte sich etwas. Obwohl es noch heftig regnete, hatte sich die Sicht so weit gebessert, dass ich erkennen konnte, wo ich ging. Ich warf einen Blick über den Strand. Die hohen Gräser schwankten im Wind, Sand flog dicht über den Boden. Ein bisschen Müll trieb an der Wasserlinie hin und
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