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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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Gefühl zu genießen, brüllte die Achterbahn plötzlich und ich erinnerte mich, weswegen ich hergekommen war – wegen des kleinen Mädchens, seiner idiotischen Mutter und wegen der Menge   –, und das gute Gefühl verschwand.
    »Ich hab gesehen, was bei den Klippen passiert ist«, fing ich an zu erklären. »Ich war mit meinem Dad da. Wir haben alles gesehen. Es war schrecklich . . . ich meine, nicht was du getan hast, das war fantastisch, aber was dann passiert ist mit dieser Frau   –«
    »Komm«, sagte Lucas, »lass uns erst mal aus dem Regen verschwinden.«
    »Mein Dad hat gesagt, er will das klären.«
    »Darüber können wir später reden. Im Moment brauche ich hauptsächlich trockene Sachen.«
    »Oh . . . ja, natürlich.« Ich schaute mich um. »Wo   –«
    »Folg mir«, sagte er.
    Und er wandte sich um Richtung Watt.
     
    Vielleicht ist es deshalb, weil ich keine Mutter habe, oder vielleicht auch, weil ich ein bisschen ein Waschlappen bin, aber ich tue ungern Dinge, von denen ich weiß, dass sie Dadaufregen würden. Nicht weil ich Angst habe, dass er es rausfände und mich bestrafen würde, ich weiß ja, dass er das nicht tut. Er hat es nie getan. Er braucht es nicht. Seine Enttäuschung ist Strafe genug. Und wenn das zu gut klingt, um wahr zu sein, dann kann ich es auch nicht ändern. Es ist einfach so.
    Wenn ich etwas tue, wovon ich weiß, ich sollte es nicht tun, fühl ich mich innerlich krank.
    Und genau so fühlte ich mich, als ich Lucas zum Watt folgte. Ich hatte Magenflattern, mein Herz schlug wie eine Trommel und Dads Stimme hallte in meinem Kopf.
Da gehst du nicht hin
. . .
Enttäusch mich nicht, Cait. Ich setze mehr Vertrauen in dich, als ich mir leisten kann zu verlieren . . . Enttäusch mich nicht . . .
    Ich wollte ihn nicht enttäuschen, er hatte es gar nicht verdient, enttäuscht zu werden. Aber manchmal übernimmt eine höhere Macht die Kontrolle, etwas, das tief in dir steckt, jenseits deines bewussten Ichs, und du siehst dich Dinge tun, die du normalerweise nie tun würdest. Du kannst sämtliche Entschuldigungen anbringen, die dir einfallen –
Ich hab nicht
gesagt
, ich würde nicht in den Wald gehen, ich hab dir nie etwas versprochen, oder?
–, aber in deinem Herzen weißt du, du machst dir nur etwas vor. Was du tust, ist falsch, aber du tust es trotzdem.
    Also tu es eben.
     
    Wir blieben am Rand des Watts stehen. Ich hatte noch nie so dicht davor gestanden. Meine Sinne waren aufgewühlt von dieser morbiden Schönheit. Der Geruch von Verwesung warjetzt stärker. Es war der Geruch stehenden Wassers in den Tümpeln, der saure Geschmack uralten schwarz gewordenen Schlamms. Der Regen hatte aufgehört und eine bleiche Sonne kämpfte sich durch die Wolken. Der sich ständig umschichtende Schlick des Watts lag vor uns ausgebreitet, den ganzen Weg hinüber bis zum Wald, eine schleimige braune Fläche, die im schwachen Licht matt schimmerte. Schwache blubbernde Geräusche trieben von der Oberfläche herüber. Tröpfeln, Klicken und wässriges Ploppen, die Geräusche von Würmern und Muscheln, die ihren schlammigen Tätigkeiten nachgingen, wie sie es schon seit Millionen von Jahren taten. So muss es gewesen sein, dachte ich. Nichts zum Erinnern, nichts zum Besitzen. Licht. Dunkelheit. Keine Wörter zum Nachdenken. Kein morgen. Keine Namen, keine Geschichte . . .
    »Deine Schuhe und Strümpfe wirst du wohl ausziehen müssen«, sagte Lucas.
    Also begann ich die Schnürsenkel aufzubinden.
    »Ich gehe vor«, erklärte er und zog seine Boots aus. »Du folgst in meinen Fußstapfen.« Er sah mich an. »Du folgst ihnen ganz genau, ja? Keinen Zentimeter weiter links oder rechts.«
    Ich nickte und blickte zweifelnd über den Schlick.
    »Schau nicht so besorgt«, sagte er. »Es geht ganz leicht.«
    »Aber wie weißt du, wo du hergehen musst?«
    Er legte seinen Kopf schief. »Es ist ganz einfach. Du kannst den festen Boden sehen. Schau her.« Er wedelte mit der Hand und deutete eine nicht existierende Spur an. »Siehst du, wie er die Luft färbt?«
    Das Einzige, was ich sah, war Schlick. Ich legte meinen Kopf so schräg wie Lucas, aber ich sah immer noch nichts. Ich musste an den unsichtbaren Tunnel am Strand denken und versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wie es mir gelungen war, ihn zu sehen, aber ich erinnerte mich nicht mehr, wie er ausgesehen hatte. Ich konnte mich an gar nichts mehr erinnern.
    »Was ist mit Deef?«, fragte ich.
    Lucas hing sich seine Boots um den Hals. »Deefer ist ein Hund«,

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