Lucas
gut, mir vorzumachen, dass es mir egal war, dass es mir nichts ausmachte, dass ich mein eigenes Leben leben musste . . . aber ich hatte immer noch ein Gewissen. Meinem Herzen war es vielleicht egal, aber mein Verstand wusste es besser.
Den Rest des Tages saß ich in meinem Zimmer und tat nichts – weder lesen noch nachdenken noch aus dem Fenster starren –, sondern wartete nur, dass die Stunden vergingen. Ich wusste nicht, worauf ich eigentlich wartete. Es war mir auch ziemlich egal.
Das Haus strahlte etwas Seltsames aus. Es wirkte kalt und klamm, als hätte es lange Zeit leer gestanden. Die Fenster klapperten im Wind. Der Holzboden knarrte. Die Luft seufzte im schwachen Licht. Ich lag auf meinem Bett und starrte die Decke an. Ich konnte den Wassertank auf dem Dachboden tropfen hören – teck, tock, tock . . . teck, tock, tock . . . teck, tock, tock – wie eine zögernde Uhr. Es war ein eigenartig hypnotisierendes Geräusch. Während ich lauschte, trieben meine Gedanken durch die Decke und ich stellte mir die kalte Zugluft und den Geruch nach Ruß und altem Holz auf dem Dachboden vor. In meinem Kopf sah ich die dunklen Balken und vernarbten Sparren und dazu das Licht, das durch die gebrochenen Schieferpfannen schimmerte. Ich konnte hören, wie der Regen auftickte und Vögel mit ihren Krallen unter der vorspringenden Dachkante kratzten . . . und auf einmal war ich dort. Ich war wieder Kind und spielte allein in meiner Dachbodenwelt. Es war eine Welt aus staubigen Dingen, die von den Balken hingen oder in Ecken herumstanden: Seilrollen, formlose Taschen, alte Mäntel, Pappkartons, Holzstücke, Teppichrollen, Farbdosen, kaputte Koffer, mit Bindfaden zusammengehaltene Stapel vergilbter Zeitungen . . . Es war eine Welt, die genau so war, wie ich sie wollte. Ich konnte mir aus einem alten Betttuch, das ich über die Balken drapierte, ein Versteck bauen und sotun, als wäre ich auf einer einsamen Insel gestrandet oder hätte mich im Wald verirrt . . .
Unten schlug eine Tür und die Erinnerung verschwand.
Ich war wieder zurück in meinem Zimmer. Ich war fünfzehn. In weniger als einem Jahr wäre ich alt genug, um zu heiraten und selbst ein Kind zu haben. Bei diesem Gedanken lief es mir kalt den Rücken runter.
Acht
D er Dienstag begann trüb und kalt, doch nach einigen Stunden drang die Sonne durch die Nebelschwaden. Allmählich lichtete sich der Himmel und glänzte in strahlendem Blau. Im Lauf des Nachmittags breitete sich eine glühende Hitze aus, die einem die Glieder zu Blei werden ließ. Es war so heiß, dass man sich nicht mehr bewegen mochte. Selbst das Meer schien zu leiden. Es lag nur da und rührte sich kaum in der Hitze, zu schwach für den kleinsten Windhauch.
Dad und ich fuhren ins Dorf, um Lebensmittel und ein paar Zeitschriften zu kaufen. Wir holen immer dort in dem kleinen Supermarkt unsere Lebensmittel. Der ist zwar teurer als die großen Märkte von Sainsbury’s oder Tesco’s auf dem Festland, aber Dad hat ein freundschaftliches Abkommen mit Shev Patel geschlossen, dem Mann, der den Laden betreibt. Dad kauft seine Lebensmittel bei Shev und Shev hat immer Nachschub an irischem Whiskey auf Lager. Beide betrügen natürlich. Dad sagt Rita Gray, was sie mitbringen soll, wenn sie zu Sainsbury’s fährt, und Shev übervorteilt Dad beim Whiskey. Aber keinen von beiden scheint das zu stören.
Als wir zurückkamen, stand ein Polizeiauto im Hof und Lenny Crane saß auf der Vordertreppe und wischte sich die Stirn. Er ist ein großer, schwerer Mann mit einem für große, schwere Männer typischen Bauch, der am Hals anzusetzen und bis zu den Knien zu reichen scheint. Lenny wirkt zudem immer ein bisschen schmuddelig. Die Jacke seiner Uniform war nicht in Ordnung, das Hemd stand offen und sein Gesicht glänzte rot. Dad stellte den Wagen ab und Lenny kam herüber und half uns beim Reintragen der Einkäufe.
In der Küche holte Dad zwei Bier für sich und Lenny und eine Cola für mich aus dem Kühlschrank und wir setzten uns an den Tisch. Lenny musste den Stuhl weit zurückschieben, um Platz für seinen Bauch zu schaffen. Als er sich niederließ, drang ein leises Stöhnen aus seinem Mund, eine Mischung aus Müdigkeit und der Last seines Übergewichts. Er öffnete sein Bier und nahm einen kräftigen Schluck, dann wischte er sich den Schaum vom Mund. Er sah erschöpft aus, mit dunklen Ringen unter den Augen und fahler Haut. Seine spärlichen Haare wirkten stumpf, was sicher auch damit zu tun hatte, dass
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