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Lucas

Lucas

Titel: Lucas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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den Jungen schließlich selber getroffen. Hat er sich etwa wie ein Verrückter verhalten?«
    »Nein.«
    »Wirkte er verwirrt?«
    »Nein.«
    »Und warum soll er dann getan haben, was nur ein Idiot tun würde?«
    »Ich weiß es nicht . . . Aber warum sollen ein halbes Dutzend Leute die Unwahrheit sagen? Erklär mir das, John. Was haben sie davon, wenn sie lügen? Was kriegen sie dafür?«
    Spaß, dachte ich für mich. Sie haben Spaß daran, andere leiden zu sehen. Vor allem andere, die sie als Bedrohung empfinden. Lucas ist für sie eine Bedrohung, weil er ein Unbekannter ist, weil er Dinge tut, die sie nicht verstehen. Und das gibt ihnen ein mieses Gefühl. Und wenn einem etwas ein mieses Gefühl macht, arrangiert man sich entweder und lernt damit klarzukommen oder aber man versucht es loszuwerden. Wenn loswerden die einfachste Lösung ist oder die lustigste, dann nimmt man eben sie.
    Egal, ob richtig oder falsch, es ist einfach so.
    Ich füllte ein Glas mit Leitungswasser und trank einen langen, kühlen Schluck.
    Dad und Lenny redeten noch immer.
    ». . . ich wollte ihn eigentlich ein bisschen drinbehalten, wenigstens bis wir noch mehr Nachforschungen angestellt hätten, aber Toms hat mir erklärt, wir sollen ihn laufen lassen.«
    »Das sehe ich auch so«, sagte Dad.
    Lenny senkte seine Stimme. »Verdammt noch mal, John, ich wollte ihn nicht drinbehalten, um ihn zu
verhören
. Ich wollte ihn schützen. Du kannst solche Dinge nicht unter der Decke halten. Was glaubst du, was passiert, wenn sich die Gerüchte weiter verbreiten? Du weißt doch, wie die Leute sind.«
    »Du meinst, er ist in Gefahr?«
    »Ich weiß es nicht . . . aber ich glaube, es wäre vielleicht das Beste, wenn er nicht mehr hier rumhinge . . .«
    »Hast du ihm das gesagt?«
    Lenny nickte.
    »Und?«, fragte Dad. »Was hat er gesagt?«
    Ein verwirrter Ausdruck zerknitterte Lennys Gesicht. »Er meinte, er sei zufrieden mit dem, was er sei.«
    Dad schwieg einen Augenblick. Er starrte nur auf den Tisch und rieb sich nachdenklich die Augenbrauen. Schließlich blickte er auf und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Martial«, sagte er leise.
    »Was ist los?«
    Dad lächelte. »Es ist das Zitat eines lateinischen Dichters aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, Marcus Valerius Martialis. ›Sei zufrieden mit dem, was du bist, wolle nicht mehr, fürchte den letzten Tag nicht, aber wünsche ihn auch nicht herbei.‹«

Neun
    A m Mittwochmorgen fuhr Dad mit Bills Mum nach Moulton. Er brauchte ein paar Sachen aus dem Papierwarenladen in der Stadt und Rita brauchte jemanden, der ihr beim Transport eines Kiefernschranks half, den sie kaufen wollte.
    »Sie wird mir wahrscheinlich auf dem Rückweg einen Hamburger ausgeben«, meinte Dad zu mir, »aber ich bin bestimmt bald zurück.«
    Ich kniff ihm in den Bauch. »Bleib solange du willst. Man weiß nie – vielleicht hast du ja sogar ein bisschen Spaß.«
    Er sah mich mit einem zweifelnden Lächeln an. »Ja.«
    Als er weg war, badete ich, zog mich an und ging dann nach unten, um mir Frühstück zu machen. In dem ganzen Durcheinander der letzten paar Tage hatte ich völlig vergessen, wie friedlich unser Haus sein kann, wenn niemand da ist. Es war ein Vergnügen, in der Küche zu sitzen, Toast zu mampfen, Tee zu trinken und aus dem Fenster zu schauen, ohne mit jemandem reden zu müssen. Ich war natürlich nicht völlig allein. Deefer lag draußen unter dem Kirschbaum im Schatten und kaute versonnen auf einem Stück altem Knochen herum. Ich konnte das Mahlen seiner Backenzähne undmanchmal ein scharfes Knacken hören, wenn der Knochen in seinem Maul brach. Er hielt den Knochen zwischen seinen Vorderpfoten, und während er drauf rumbiss, wanderte sein Blick beiläufig über den Garten und beäugte mal dies, mal das. Ab und zu unterbrach er sein Kauen, um sich auf die Bewegung eines Vogels oder Insekts zu konzentrieren, dann kaute er weiter, zufrieden mit dem, was er gesehen hatte.
    Ich nippte an meinem Tee und dachte an den Tag, der vor mir lag. Ich musste den Abwasch machen, ein bisschen staubsaugen . . . Simon würde um sechs kommen . . . das war aber eigentlich auch schon alles.
    Es war nicht gerade
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, doch das machte mir nichts aus – ab und zu mag ich ein bisschen Langeweile.
    Nachdem ich die Teller in der Spüle gestapelt hatte, ging ich ein wenig durchs Haus. Soweit mir bewusst war, gab es keinen besonderen Anlass dazu, ich lief einfach ziellos umher, genoss die Einsamkeit und die Ruhe und

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