Lucian
oder Eisregen hätten mehr meiner Stimmung entsprochen; zumindest hätten sie zu den kalten Füßen gepasst, die ich plötzlich bekommen hatte. Ich fragte mich, wie ich gestern noch so zuversichtlich hatte sein können.
Aber jetzt war ich hier und der kühle Druck auf meinen Schläfen, als ich mit dem Kopf unter Wasser tauchte und die Welt über mir für ein paar Sekunden verschwand, tat gut. Am liebsten wäre ich nie wieder aufgetaucht, aber mein Körper arbeitete sich von ganz allein zurück an die Oberfläche.
Noch versteckte sich der strahlend schöne Tag hinter einem dunstigen Vorhang, aber zum Schwimmen war es genau richtig. Das kalte Wasser ließ mich spüren, dass ich existierte, fast hörte ich, wie es mir zuflüsterte: zu Hause, zu Hause, zu Hause, hier bei mir bist du zu Hause . . .
Miss Strattons Stimme schreckte mich auf. In knappen Worten bellte sie uns die Anordnungen für die Aufwärmübungen zu: zwei Runden Brustschwimmen, dann Rücken, dann Delfin, dann Kraulen. Es waren Regeln, die ich beherrschte und die mein Körper auf wunderbare Weise abgespeichert hatte.
Hinter uns traten Reihe für Reihe die anderen an. Meine Mitschülerinnen waren ziemlich fit und unglaublich ehrgeizig, jede von ihnen hätte meine ehemaligen Teamkolleginnen aus Deutschland um Meilen geschlagen. Alles geschah hier im Wettstreit und das war genau das Richtige für mich.
Während sich das vorhin noch unberührte Wasser um mich herum in eine brodelnde, aufgewirbelte Masse verwandelte, kämpfte ich gegen meine Gedanken. Mit jeder Bewegung schob ich sie von mir, wieAlgen auf der Wasseroberfläche, die mit ihren schleimigen, schmierigen Armen nach mir greifen und mich einwickeln wollten. Heranziehen, wegdrücken, heranziehen, wegdrücken, Luft holen, ausatmen, heranziehen, wegdrücken.
Ich schwamm jetzt dafür, ein Stück der alten Rebecca einzuholen, ich wollte wieder zu meinem alten Ich werden, um jeden Preis und mit aller Macht.
Und ich kämpfte gegen die Gedanken an Lucian.
Mittlerweile waren wir in neue Einheiten aufgeteilt worden, jede Gruppe konzentrierte sich auf eine Disziplin. Ich war bei den Kraulern, wir waren zu sechst und trainierten Sprintstrecken, angefangen bei fünfzig Metern Kraul, dann hundert, dann hundertfünfzig. Ich wurde besser, ich holte auf, pflügte mit weit ausholenden Armen durch das Wasser, bei der letzten Strecke ging ich als Zweite ins Ziel. Als ich mich mit letzter Kraft über den Rand des Pools hievte, war ich so erschöpft, dass es sich richtig gut anfühlte.
Als ich mit meinen Mitschülerinnen unter die Dusche ging, versuchte ich mich innerlich auf die nächsten Stunden vorzubereiten.
»Woher kommst du?«, fragte mich ein Mädchen mit langen rotblonden Haaren, die sich zu meinem Entsetzen als »Susan-aber-meine-Freunde-nennen-mich-Suzy« vorstellte. »Bist du von der Ostküste?«
Ich überlegte kurz, ob ich lügen sollte, murmelte dann aber, dass ich aus Deutschland war. Sie würde es ohnehin rausbekommen. »Oh mein Gott, aus Deutschland?« Suzy-Susan sah mich aus hellgrünen Katzenaugen an. Ihr hübsches schmales Gesicht und ihr drahtiger Körper waren mit zahlreichen Sommersprossen übersät. »Was hat dich nach Los Angeles verschlagen?«
»Mein Dad lebt hier«, entgegnete ich knapp. »Ist er Amerikaner?«
Ich nickte, rubbelte mich mit dem Handtuch trocken, das nach Michelles Parfüm roch, und ging zu meinem Schließfach, dicht gefolgt von Suzy, die mich als ihre persönliche Errungenschaft zu betrachten schien. Meine anderen Mitschülerinnen blieben im Hintergrund, aber mir war deutlich bewusst, dass ich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt war.
Ich zog mir das T-Shirt über den Kopf und zwängte die Jeans über meine noch feuchten Beine. Ich hatte die unauffälligsten Klamotten aus dem Schrank gezogen, um mich so unsichtbar wie möglich zu machen.
»Mein Dad ist Ire«, sagte Suzy, die genau wie ich Jeans und T-Shirt trug. Ihres war allerdings enger. Es spannte über den – gleich großen – Brüsten und trug die Aufschrift der Schulmannschaft. »Aber er ist hier aufgewachsen«, fuhr sie fort. »Wir sind noch nie in Irland gewesen. Und du? Magst du Los Angeles?«
»Ja«, sagte ich und versuchte allen Nachdruck in dieses Wort zu legen. Verbissen fügte ich hinzu: »Ich liebe es.«
»Sag was auf Deutsch.« Suzy neigte ihren Kopf und sah mich so neugierig an, als wäre ich eine Jukebox, in die sie gerade einen Quarter gesteckt und auf Zufallswahl gedrückt hatte.
»Ich
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