Lucian
aufhören. Sein Hemd war falsch zugeknöpft und völlig unvermittelt fiel mir ein, dass Janne ihm dieses Hemd vor Jahren in der Schanze in Hamburg gekauft hatte, zusammen mit mir. »Es passt so gut zu ihm«, hatte sie gesagt. »Es lässt seine Augen stärker leuchten.«
Jetzt waren sie blutunterlaufen. Seine Handfläche legte sich auf die Tischplatte und dann fegte er mit einer einzigen Bewegung die Wodkaflasche, das Glas und den Unterteller vom Tisch. Asche wirbelte durch die Luft. Die Kippen landeten auf dem Küchenboden, wo sie sich in einem ungleichmäßigen Muster verteilten. Das Glas zersprang in tausend Scherben. Einige davon flogen gegen das Regal, andere rutschten wie Eiskristalle über den Boden. Der Aschenbecher zerbrach in zwei gleich große Teile. Das Geräusch klang anders als das zerberstende Glas, heller, klarer, wie ein glatter Bruch.
Nur die Wodkaflasche blieb ganz. Sie rollte über den glatten Küchenboden, bis sie gut einen Meter vor unseren Füßen zum Liegen kam.
Ich spürte Michelle in meinem Rücken. Kälte schien von ihr auszuströmen, und als ich in Dads Gesicht sah, wurde mir bewusst, was für einen schrecklichen Fehler ich gemacht hatte, mit Lucian hierherzukommen.
»Dad, bitte hör mir zu«, setzte ich noch einmal an. Meine Zunge fühlte sich an wie gelähmt und Dad erstickte jedes weitere Wort im Keim.
»Nein, Rebecca«, sagte er und klang so ruhig, dass ich panisch wurde. »Ich möchte nichts von dir hören. Kein einziges Wort.« Er trat auf Lucian zu, der noch immer wie angewurzelt neben mir stand.
»Lass sie los«, zischte Dad. Er ballte seine Hand zur Faust. »Finger weg von meiner Tochter, und zwar sofort.«
»Nein, Sir.« Lucians Stimme klang noch ruhiger als die von Dad. »Und wenn Sie Ihrer Tochter nicht zuhören möchten, dann hören Sie mir zu.«
»Ich glaube, wir haben uns nicht richtig verstanden.« Dads Faust schnellte hervor, aber anstatt Lucian ins Gesicht zu schlagen, krallte sie sich in Lucians Jackenkragen. Er schüttelte ihn und gleichzeitig schüttelte es mich. Ich spürte das Vibrieren am ganzen Körper. Mit eisernen Fingern hielt Lucian meine Hand fest. Es war, als ob er sich einzig darauf konzentrierte, mich nicht loszulassen.
Mein Blick schnellte zur Seite. Faye war wieder in der Küche aufgetaucht. Dicht neben Dad blieb sie stehen, mit diesem ruhigen, konzentrierten Ausdruck im Gesicht. Michelle lehnte unweit von ihr an einem Küchenschrank. Aber weder sie noch Dad schienen Faye wahrzunehmen.
Faye schaute Lucian an, sie sah ihm direkt in die Augen und Lucianblickte an Dad vorbei zu ihr. Dann wandte er sich wieder an meinen Vater. »Was auch immer Sie vorhaben, Rebecca und ich bleiben zusammen«, sagte er.
Dads Augen schienen Feuer zu sprühen. Er griff mit seiner freien Hand in seine Hosentasche und ich stieß einen erstickten Schrei aus. Für einen Moment glaubte ich tatsächlich, mein Vater würde eine Waffe aus der Tasche ziehen und in gewisser Hinsicht tat er das auch. Er hielt Lucian sein Handy unter die Nase.
»Ich habe die Polizei benachrichtigt«, sagte er. »Sie wissen Bescheid, dass meine Tochter spurlos verschwunden ist und sich vermutlich in den Händen eines Psychopathen befindet. Ich brauche nur diesen Knopf zu drücken und die Polizei wird hier sein.«
Dad ließ das Handy aufschnappen.
»Tu das nicht!«, schrie ich außer mir. Ich rüttelte an seinem Arm, aber Dad schüttelte mich ab, als wöge ich nichts, während er Lucian mit der anderen Hand noch immer fest im Griff hielt.
»Dad, bitte!« Ich fing an zu schluchzen. »Lass mich mit dir reden, ich kann dir alles erklären. Lucian ist kein Mörder, er ist . . . er . . . er ist . . .«
»Ich weiß, wer er ist«, schnitt Dad mir das Wort ab. »Ich brauche keine Erklärungen. Ich meine es ernst, Rebecca. Halt den Mund. Ein Wort von einem von euch und ich rufe die Polizei.«
Ich zuckte zurück. Flehentlich sah ich zu Faye, aber sie schüttelte nur mit dem Kopf, ganz leicht, ohne Lucian aus den Augen zu lassen, der mich in seinem eisernen Griff festhielt.
Michelle kam jetzt ebenfalls auf mich zu. Sie legte Dad die Hand auf die Schulter und schaute von Lucian zu mir.
»Deine Mutter ist auf dem Weg hierher, Rebecca«, sagte sie. »Ich habe sie gestern angerufen, sie sitzt bereits im Flieger und wird jeden Moment landen.«
»Nein.« Ich fuhr zu Dad herum. »Nein, das hat Michelle nicht getan.«
»Doch, Rebecca.« Dad war sehr ruhig. »Das hat sie. Mit meinem vollen Einverständnis.
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