Lucian
Kopierer freischalten, tippte die Sieben und zwei Nullen ein, drückte auf Start und beobachtete, wie das Gerät die einzelnen Blätter ausspuckte, in einem ruhigen, monotonen Rhythmus und dabei unglaublich effektiv. Es war der reinste Flugblätterregen. Als alle Kopien draußen waren, kaufte ich noch drei Rollen Tesafilm,zahlte mit einem nagelneuen Fünfzigeuroschein und marschierte mit einer vollen Plastiktüte in der Hand zurück auf die Straße.
Auf der Osterstraße waren hauptsächlich Geschäfte, während das Flugblatt sich eher an Büros oder Privathaushalte richtete, und ich wollte die Botschaft nicht an die falsche Zielgruppe verschwenden. Also bog ich in die ruhigere Bismarckerstraße ein und machte mich an die Arbeit. Dort standen hauptsächlich Wohnhäuser, schöne Altbauten mit großen, teilweise wunderschön geformten Fenstern, manche Häuser hatten sogar Wintergärten, die ganz und gar aus Fensterglas bestanden.
Im hinteren Teil lagen ein paar Büros, hauptsächlich hatten sich dort Steuerberater, Ärzte oder Ergotherapeuten niedergelassen. Ich arbeitete mich Haus für Haus voran. Der Regen war stärker geworden und ich musste die Tüte unter meine Jacke stecken, damit die Blätter nicht nass wurden. Als sämtliche Hauseingänge der Bismarckstraße mit Flugblättern versehen waren, hatte ich einen guten Rhythmus gefunden: Hauseingang ansteuern, unterstellen, Plastiktüte absetzen, ein Flugblatt aus der Tüte ziehen, es mit der rechten Hand, in der ich den Tesafilm hielt, an das Klingelschild drücken, mit der linken ein Stück Tesafilm abziehen, festkleben und weiter zum nächsten Hauseingang.
Hausbewohner traf ich kaum, und wenn, dann waren sie damit beschäftigt, dem Regen zu entkommen, der sich langsam, aber sicher zu einem echten Unwetter ausgewachsen hatte. Es stürmte, der eiskalte Wind peitschte den Regen voran und die Tropfen waren mittlerweile so groß, dass die Bezeichnung Katzen und Hunde jetzt doch zutreffend war. Mir rann das Wasser aus den Haaren und meine Hände waren so kalt, dass ich sie kaum noch öffnen konnte, aber ich kämpfte mich entschlossen weiter. Ich hatte noch gut die Hälfte des Stapels übrig. Vor einem der Häuser schnauzte mich eine Frau an, diegerade aus dem Eingang kam, sie sagte, dass Werbung hier verboten sei, aber als sie um die Ecke verschwunden war, klebte ich das Flugblatt mitten auf das Klingelschild. Ein paar Häuser weiter fiel mir der Tesafilm aus den Fingern, und als ich mich danach bückte, glitt mir die Tüte aus dem Arm. Sie rutschte die Treppe hinunter und landete in einer matschigen Pfütze. Ein Großteil der Blätter fiel heraus. Ich wollte sie aufsammeln, aber die Blätter waren schon völlig durchweicht. Sie sahen so falsch aus, himmelblau auf dem grauen, nassen Asphalt.
Ich versetzte ihnen einen Fußtritt, ging zurück zur Eingangstür und machte mich verbissen daran, ein trockenes Blatt aus dem verbliebenen Stapel zu ziehen und unter das Klingelschild zu kleben. Der Scheißtesafilm wollte nicht kleben, meine Hände brannten mittlerweile vor Kälte, und als ich den Namen Rossmann auf einem der Klingelschilder las, entwich mir ein trockenes Schluchzen.
Der Nachname brachte mich völlig aus dem Konzept, es war Suses Name, sie wohnte natürlich nicht hier, aber mit einem Mal schien es mir ganz und gar unmöglich, fast wie ein Verrat, diese Arbeit ohne sie zu erledigen. Ich ging in die Knie und starrte auf die matschigen Blätter, die vom Regen über die Straße geschwemmt wurden, und erst jetzt wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich machte.
Ich hatte fünfunddreißig Euro gezahlt, um himmelblaue Flugblätter für einen Fensterputzservice zu kopieren und sie bei strömendem Regen an fremde Hauseingänge zu pinnen – war ich wahnsinnig geworden?
Ich schleuderte die übrig gebliebenen Flugblätter in den nächsten Mülleimer, griff nach meinem Handy und verbrachte den Rest des Tages damit, Suse zu suchen. Ich rief auf ihrer Nummer an, doch niemand nahm ab. Ich hinterließ drei Nachrichten und zwei SMS. Ich wartete, bis die Schule aus war, und probierte es bei ihr zu Hause aufdem Festnetz. Erst war eine halbe Stunde besetzt, dann ging niemand mehr dran. Ich fuhr zu ihrem Haus und klingelte Sturm. Irgendwann hatte ich ihre Mutter an der Sprechanlage, die mir mit knapper, nervöser Stimme mitteilte, Suse sei unterwegs und nein, ich könne nicht oben auf sie warten.
Ich versuchte herauszufinden, wo Dimos Proberaum war, aber ich kannte weder seine
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