Luciano
Lichtkegel sprühte. Dann hörte
er drinnen Schrit te, und das Guckloch ging auf.
Barbera sagte: »Wer ist da?«
»Ich, Vito.«
»Harry, sind Sie's
wirklich?« sagte Barbera, jetzt in einem Englisch, das geradewegs
aus der Bronx kam. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie
wären hopsgenommen worden.«
Er öffnete die kleine Tür, und Carter trat ein. »War ver
dammt knapp, Vito, genau wie bei Waterloo«, sagte er und wurde ohnmächtig.
Carter kam langsam wieder zu
Bewußtsein und sah über sich eine von Sprüngen
durchzogene Gipsdecke. Es war sehr kalt und roch intensiv nach einem
chemischen Mittel, das er bald als Formaldehyd erkannte. Er lag auf
einem der Tische im Prä parierungsraum des Leichenbestatters,
unterm Kopf eine höl zerne Nackenstütze, Magen und Brustkorb
sachkundig banda giert.
Er drehte den Kopf und sah Barbera,
der eine lange Gummi schürze trug und am Nebentisch mit der Leiche
eines alten Mannes beschäftigt war. Carter wollte sich
hochstützen. Barbe ra sagte munter: »Würde ich an Ihrer
Stelle nicht tun. Er hat sie zweimal erwischt. Die eine Kugel ging
seitlich glatt durch, aber die zweite steckt noch irgendwo im linken
Lungenflügel. Sie brauchen einen erstklassigen Chirurgen.«
»Tausend Dank«, sagte Carter. »Daraufhin geht's mir wirk lich schon bedeutend besser.«
Auf einem Rolltisch neben Barbera
lagen, säuberlich auf ei nem weißen Tuch angeordnet, die
Werkzeuge des Einbalsamie rers: Chirurgenzangen, Skalpelle, Nadeln,
Dränageröhrchen und ein Glasgefäß mit einigen
Gallonen Balsamierungsflüssig keit.
Das Gesicht des Leichnams trug einen
Ausdruck milden Er staunens, wie man ihn an vielen Toten sieht, der
Unterkiefer hing herab, der Mund stand offen wie vor Überraschung,
daß dergleichen passieren konnte. Barbera griff zu einer langen
gebogenen Nadel und führte sie vom Rand der Unterlippe hin auf
durch die Nasenscheidewand und wieder hinunter, und als er sodann den
Faden straffzog und abschnitt, waren die Kiefer zugeschnappt.
»Ah, Sie können die Leute auch wieder von den Toten auf
erwecken?« sagte Carter und hievte sich vom Tisch hoch.
»Ich wußte ja schon immer, daß Sie ein sehr
vielseitiger Mann sind.«
Barbera lächelte. Er war ein
kleiner, energisch wirkender Mann von fünfzig Jahren, dessen
wirrer eisengrauer Vollbart in seltsamem Gegensatz zu dem New Yorker
Akzent zu stehen schien. »Euch Engländer soll doch der
Teufel holen, Harry! Ich meine, wann werdet ihr's endlich begreifen?
Die Tage des Em pire sind vorbei. Was wollten Sie überhaupt dort
droben, den Krieg im Alleingang gewinnen?«
»Ja, so ähnlich.«
Die Tür ging auf, und ein junges
Mädchen kam herein. Sechzehn, siebzehn, älter nicht. Klein,
dunkelhaarig, mit einem reifen, vollen Körper, der das alte
Baumwollkleid zu sprengen drohte. Sie hatte einen breiten Mund,
dunkelbraune Augen im charakterstarken Gesicht, und doch hatte man den
Eindruck, sie habe viel zu früh viel zuviel vom Leben in seiner
übelsten Ge stalt kennengelernt.
Sie trug ein Tablett mit einer alten
Kaffeekanne aus Messing, mit braunem Zucker und Gläsern. Auch eine
Flasche Cognac – Courvoisier – stand darauf.
Barbera arbeitete ruhig weiter.
»Rosa, das ist Major Carter. Meine Nichte. War bei Ihrem letzten
Besuch noch in Palermo.«
»Rosa«, sagte Carter.
Sie goß Kaffee in ein Glas und reichte es ihm wortlos.
Barbera sagte: »Nett von dir.
Jetzt geh wieder ans Gitter und behalte den Dorfplatz im Auge. Was
immer sich tut – egal, was, meldest du mir sofort.«
Sie ging hinaus, und Carter goß
sich einen Cognac ein, den er in langsamen Schlucken trank, denn der
Schmerz in seiner Lunge war so höllisch, daß er kaum atmen
konnte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Nichte
haben. Wie alt ist sie?«
»Oh, hundertfünfzig oder
sechzehn. Ganz wie Sie wollen. Ihr Vater war mein jüngster Bruder.
Kam 1937 in Neapel bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ich verlor seine
Witwe aus den Augen. Sie starb vor drei Jahren in Palermo an der
Schwindsucht.«
»Und Rosa?«
»Von ihr hörte ich erst
vor etwa zwei Monaten durch MafiaFreunde aus Palermo. Sie ist seit
ihrem dreizehnten Lebensjahr auf den Strich gegangen. Ich fand, es sei
höchste Zeit, daß sie ein Zuhause kriegt.«
»Fühlen Sie sich noch immer hier zu Hause, auch nach der Tenth Avenue?«
»Ja gewiß, ich habe kein
Heimweh nach New York. Etwas, das Rosa unbegreiflich findet.
Weitere Kostenlose Bücher