Lucy in the Sky
mich. Warum kann ich das nicht einfach lassen? Warum kann ich nicht so sein wie mein älterer Stiefbruder mit seiner wundervollen, eindeutigen Beziehung? Wenn Nathan wieder in Australien ist, wird es leichter sein, rede ich mir ein, aber bei dem Gedanken durchfährt mich erneut ein scharfer Schmerz. Werde ich jemals aufhören, mich seinetwegen verrückt zu machen? Ist es etwa das Gleiche wie bei Sam?
Meine Gedanken fahren Karussell, und schließlich stehe ich auf, suche leise meine Handtasche und schleiche dann den Flur hinunter ins Bad. Ich schließe ab und hole Nathans silbernen Flugzeuganhänger heraus.
Als wir auf der Uni waren, gehörte Karen zu den Leuten, die fest an die positive Wirkung von Pro- und Kontra-Listen glaubten, wenn es darum ging, große Entscheidungen zu treffen. Ich habe nicht vor, mir um diese Zeit ein Stück Papier und einen Stift zu besorgen, aber ich mache eine Liste im Kopf.
Pro Nathan: Offensichtlich fühle ich mich zu ihm hingezogen; er ist sexy und lustig. Aber vor allem »sieht« er mich. Er versteht mich. Und ich habe das Gefühl, ich könnte mich stunden-, tage-, wochenlang mit ihm unterhalten. Jahrelang wahrscheinlich …
Kontra Nathan: Er lebt auf der anderen Seite der Welt, er ist zwei Jahre jünger als ich, er hat mit sechzehn die Schule geschmissen, möglicherweise kriegt er sein Leben jetzt auf die Reihe, aber nach dem, was Sam und Molly erzählen, kann es genauso gut sein, dass er alles wieder hinschmeißt und von jetzt auf gleich die Zelte abbricht. Er ist ein eigensinniger, unabhängiger Typ – warum sollte er Wert auf eine feste Freundin legen? Man braucht sich doch nur die Geschichte mit Amy anzusehen.
Und was ist mit James? Pro James: Wir sind seit mittlerweile vier Jahren zusammen. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Ich weiß noch, wie wir uns verliebt haben und gar nicht genug voneinander kriegen konnten. Wir haben praktisch von Anfang an zusammengewohnt und besitzen jetzt eine eigene supertolle Wohnung. Er hat einen guten Job und hervorragende Zukunftsaussichten. Er ist intelligent, erwachsen, sexy, und er küsst verdammt gut. Im Bett ist er auch sehr gut.
Hmm, ich frage mich, wie Nathan wohl im Bett ist. Was, wenn es bei uns nicht funken würde?
Kontra James: Ich vertraue ihm nicht. Ich habe ihm nie vertraut.
Spricht sonst noch was gegen James? Er schaut sich schrecklich viel Sport in der Glotze an. Aber hey, wenn ich in Australien mit Nathan leben würde, würde er auch von morgens bis abends surfen gehen. Und das würde mich mindestens genauso wahnsinnig machen.
Aber jetzt bin ich einfach kleinlich. Mir graut davor, mir auszumalen, was herauskommen würde, wenn jemand eine Pro-Kontra-Liste für mich machen würde …
Aber das Wichtigste des Ganzen ist doch, dass James mich liebt. Er sorgt für mich, und er sorgt sich um mich.
Also gibt es einen klaren Sieger, denke ich bekümmert, während ich auf den silbernen Anhänger in meiner Hand schaue. Nur ist es leider nicht der, den ich mir gewünscht habe.
Kapitel 24
»Ihr werdet nicht glauben, wen ich gestern Abend getroffen habe!«, verkündet Chloe atemlos. Es ist Freitagmorgen, vor vier Tagen bin ich aus Somerset zurückgekommen, und Gemma und ich fangen gerade an, Briefe einzutüten, weil unsere Praktikantin sich krankgemeldet hat. Chloe war bei einem Morgenmeeting mit ihrem Kosmetikkunden.
»Wen?«, frage ich, während sie ihre Tasche und ihren Mantel ablegt und auch nach einem Stapel Umschläge greift, um uns zu helfen.
»William!«
»Wer ist William?«, will Gemma wissen.
Wie sich herausstellt, hat Chloe ihn zufällig in einer Bar getroffen und ist mit ihm ins Gespräch gekommen. Und er hat sie gefragt, ob sie morgen Abend mit ihm ausgehen möchte.
»Also ist er wohl doch nicht so schüchtern … «, meint Chloe und sieht dabei extrem zufrieden aus.
»Sag ihr, sie soll aufpassen«, sagt James, als ich ihm davon erzähle.
»Warum?«
»Er lügt manchmal ziemlich krass. Du würdest staunen, womit er alles durchkommt.«
»Wie meinst du das denn?«, frage ich besorgt, und in meinem Kopf schrillen die Alarmglocken, weil man das Gleiche ja auch über James sagen könnte.
»Vertrauliche Arbeitssachen. Ich darf nicht darüber reden. Aber sag ihr, dass sie vorsichtig sein soll.«
Am Samstag gehe ich mit Nathan zum Highgate Cemetery, einem alten Friedhof. James hatte keine Lust, es kann sein, dass er stattdessen Zoe trifft. Was mir gerade recht ist. Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher