Lucy in the Sky
machen.
»Begleitet James dich?«, fragt sie.
»Ja«, lüge ich.
Am Dienstagmorgen um sieben holt Nathan mich ab.
Als wir in Richtung Norden aus London herausgefahren sind und mitten im Berufsverkehr die Autobahn erreichen, hole ich sein Tape aus meiner Handtasche und stecke sie in den Recorder.
»Du hast sie immer noch?«, fragt er.
»Na klar.«
Wegen des Verkehrs brauchen wir gut dreieinhalb Stunden nach Manchester. Unterwegs schlafe ich ein, Nathan fährt weiter. Das Begräbnis ist erst mittags, also suchen wir, als wir endlich in der Stadt sind, erst mal den Friedhof und gehen dann in ein schäbiges Café in der Nähe.
»Danke, dass du mitgekommen bist«, sage ich, als wir uns hingesetzt haben. »Ich weiß nicht, was ich sonst gemacht hätte … «
»James wäre bestimmt mitgefahren, wenn du ihm gesagt hättest, wie wichtig es für dich ist«, meint er.
»Vielleicht.«
Nathan schweigt. Die Kellnerin bringt unser Essen.
Mein Vater wird verbrannt, weil das billiger ist als ein normales Begräbnis. Der Pfarrer ist überrascht, mich zu sehen, denn er wusste nicht, dass mein Vater eine Tochter hatte. Außer uns nehmen nur noch ein paar Leute an der Trauerfeier teil, unter anderen auch ein ziemlich altes Paar. Ich weiß nicht, wer sie sind, und will es auch gar nicht wissen. Als der Pfarrer mich fragt, ob ich etwas vortragen möchte, lehne ich ab. Der Gottesdienst ist kurz, oberflächlich, trostlos.
Als es vorbei ist, stellt sich mir eine Polizistin in Zivilkleidung vor. Sie hat ein paar Sachen von meinem Dad in ihrem Wagen und möchte wissen, ob ich etwas davon behalten will.
»Ich dachte, meine Mum hätte Ihnen schon gesagt, es soll alles gespendet werden«, wundere ich mich.
»Daran haben wir uns auch gehalten«, entgegnet sie. »Aber hier geht es nur um ein paar persönliche Kleinigkeiten. Nur eine kleine Schachtel!«
Als ich wieder im Auto sitze, die Schachtel auf den Knien, graut es mir plötzlich davor, sie zu öffnen.
»Du musst es dir ja nicht jetzt gleich anzuschauen«, meint Nathan.
»Aber ich möchte. Bevor wir von hier wieder verschwinden. Stört es dich?«
Der Regen trommelt auf die Windschutzscheibe, der Nachmittagshimmel ist grau und stürmisch. In wenigen Stunden wird es ganz dunkel sein, und wir haben noch die lange Fahrt nach London vor uns. Nathan knipst das Licht über uns an, und ich klappe den Deckel der Schachtel zurück.
Ein seltsamer Geruch schlägt mir entgegen. Modrig, verdorben … als hätten sich die Ausdünstungen der Leiche meines Vaters auf seine Sachen übertragen. Mich überfällt der heftige Wunsch, auszusteigen und mich in den Regen zu stellen oder wenigstens das Fenster zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Aber ich reiße mich zusammen, denn mir ist überdeutlich bewusst, wie viel Nathan bereits für mich getan hat. Schließlich möchte ich ihm nicht mehr zur Last fallen als unbedingt nötig, ganz egal, wie klaustrophobisch ich mich fühle.
In der Schachtel befinden sich zwölf Bücher, unter anderem eine Bibel, sieben Vinyl-Schallplatten von irischen Künstlern, die ich nicht kenne, eine billig aussehende Metalluhr, ein goldener Ehering und ein paar Briefumschläge.
Sofort erkenne ich darauf die Handschrift meiner Mutter. Ich reiße die Autotür auf, strecke den Kopf hinaus und würge. Der Regen prasselt auf mich herab, ich würge und würge, aber nichts kommt heraus.
»Lucy!« Nathan zieht mich zurück, und ich schließe die Tür wieder. »Du kannst das auch später lesen!«
Aber ich muss es jetzt tun, auf der Stelle. So bin ich eben. Die letzte Seite des Buches … Das Durchsuchen von Ständen nach Sonderangeboten … Ich erinnere mich, wie Molly mich auf all das aufmerksam gemacht hat, als ich mich geweigert habe, James’ SMS zu löschen. Damals in ihrem Werkraum in Sydney.
Einer der Umschläge ist dicker und fester, und mit diesem fange ich an. Darin befinden sich ein Brief und ein Foto von einem kleinen Mädchen, das auf dem Balkon eines Apartmenthauses steht und in die Kamera grinst. Ihre braunen Haare sind zu einem kindlichen Pagenkopf geschnitten.
Lucy, fünf Jahre, hat meine Mum auf die Rückseite geschrieben. Ich wappne mich, klappe den Brief auf und fange an zu lesen …
Joe,
das ist deine Tochter. Ich dachte, du möchtest vielleicht wissen, wie sie aussieht, weil du sie persönlich sicher nicht so bald zu Gesicht kriegen wirst.
Ich komme nicht zurück, also versuche nicht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Nach dem, was du getan
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