Lucy in the Sky
hast, will ich dich nie wiedersehen. Du bist ein bedauernswerter Mensch. Und voller Bosheit. Eigentlich verdienst du das Foto von Lucy nicht, aber ich schicke es dir trotzdem. Eines Tages, falls du es je schaffen solltest, dein beschissenes Leben auf die Reihe zu kriegen, darf sie dich vielleicht mal besuchen. Aber bis dahin …
Diane
Das klingt überhaupt nicht wie meine Mum. Ich verstehe das nicht. Aber ich gebe Nathan den Brief und greife nach dem nächsten Umschlag. Regenwasser tropft aus meinen Haaren und läuft mir in den Nacken, aber ich merke es kaum.
Joe,
sag deiner Mutter bitte, sie soll aufhören, mir zu schreiben. Die neuen Mieter haben keine Lust mehr, dauernd ihre Briefe nachzuschicken.
Diane.
Ich bin total durcheinander. Ich verstehe das alles nicht. In den übrigen Umschlägen befinden sich Briefe von meiner Großmutter an meinen Vater. Es scheint nichts Wichtiges zu sein – was sie im Garten gemacht hat, Neuigkeiten über die Nachbarn, lauter solche Dinge. Nach einer Weile höre ich auf zu lesen.
Warum war er in Manchester? Warum hatte er Dublin verlassen? Ich weiß es nicht. Und nun werde ich es wahrscheinlich nie erfahren.
Mir fällt auf, dass ich auf der ganzen Welt die einzige Blutsverwandte von Joe McCarthy bin. Aber die einzige Verbindung, die ich zu meinem sogenannten Vater habe, ist sein Nachname.
»Alles in Ordnung?«, fragt Nathan und streicht mir die Haare aus der Stirn, genau wie er es damals am Strand in Manly getan hat. Mein Herz schlägt höher, wenn ich ihn ansehe. Ich strecke die Hand aus und lege sie auf seine Wange. Die Bartstoppeln sind weicher, als ich gedacht hätte. Dann küsst er mich aufs Handgelenk, und ich beuge mich zu ihm. Ich liebe ihn, ich will ihn. Er sieht mich an, hält meinen Blick fest. Er
muss
wissen, was ich fühle. Es kann nicht anders sein. Sanft nimmt er meine Hand von seinem Gesicht.
»Es tut mir leid … «, sagt er. »Es tut mir leid.«
Und dann ist der Moment zerstört. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück. Es fühlt sich an, als hätte er mich geschlagen. Als er hinüberreicht und meine Wange berühren will, weiche ich aus. Ich kann ihn nicht ansehen, aber ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. Und ich spüre seinen Schmerz.
»Bitte, bring mich nach Hause«, sage ich.
Ich fühle mich leer, völlig kraftlos. Ich kann James nicht anschauen, als ich abends zurückkomme. Ich sage ihm, dass ich nur vor der Glotze sitzen und über nichts von all dem reden möchte, was ich heute erlebt habe. Die Schachtel mit den Habseligkeiten meines Vaters lasse ich neben dem Sofa stehen, und James beäugt sie misstrauisch. Aber ich ignoriere ihn. Von dem, was sich auf dem Bildschirm abspielt, kapiere ich nichts. Ich habe das Gefühl, als würde alles in Zeitlupe geschehen.
Das Telefon und mein Handy haben geklingelt, aber ich weigere mich, dranzugehen. Als James es tun will, verbiete ich es ihm. Ich möchte mit niemandem sprechen. Mein Leben ist ein Chaos. Ich liebe James. Ich liebe Nathan. Nathan geht weg. Mein Vater ist tot.
Dann klingelt James’ Handy, er klappt es auf, lässt mich allein im Wohnzimmer und geht ins Schlafzimmer. Ein paar Minuten später kommt er zurück.
»Das war deine Mum. Sie macht sich Sorgen um dich.«
Ich antworte nicht.
Am nächsten Tag gehe ich nicht zur Arbeit, obwohl wir viel zu tun haben. Ich kann noch immer keine Menschen um mich herum ertragen. Stattdessen liege ich auf dem Sofa und ignoriere das Telefon. Das schrille Klingeln tut mir merkwürdigerweise gut, aber abends, als James heimkommt, schimpft er mit mir. Ich lasse ihn den Stecker vom Telefon rausziehen, und das Klingeln hört auf.
Ich frage mich, ob Nathan versucht hat, mich zu erreichen.
Am Donnerstag ist mein Entschluss gefasst, am Wochenende nach Somerset zu fahren. Ich muss meine Mum sehen. Ich buche ein Zug-Ticket und rufe sie dann an, um ihr zu sagen, dass ich komme. Für James hinterlasse ich einen Zettel, auf dem steht, dass ich nach Hause gefahren bin. So hat er mich noch nie gesehen, und er weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll.
Mum holt mich allein vom Bahnhof ab und nimmt mich in die Arme. Aber ich erwidere die Umarmung nicht.
»Lucy, Liebling … «
Schweigend fahren wir nach Hause.
Da Tom in London arbeitet und Nick auf der Uni ist, sind wir übers Wochenende nur zu dritt: meine Mum, Terry und ich. Terry lächelt mir mitfühlend zu, als ich ankomme, und sagt, dass es ihm sehr leid tut wegen meines Vaters.
»Alles wird gut, Kind«, sagt
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