Lucy kriegt's gebacken
einen potenziellen Ehekandidaten zu treffen, scheint der Kieselstein in meinem Hals größer zu werden. Aber hey, da ist ja noch die Tüte aus der Apotheke. Mein rezeptpflichtiges Medikament. Und ja, Anne sagte doch, dass es sich um ein mildes Beruhigungsmittel handelt - vielleicht sollte ich es probieren. Ich lese die Dosierungsanleitung, schlucke eine Pille und vertilge ein Twinkie, weil man sie zum Essen einnehmen soll. Dann suche ich meine Oberlippe nach Barthaaren ab, werfe meinem Kater ein Küsschen zu und verspreche ihm, bald zurück zu sein.
Während ich auf den Fahrstuhl warte, überlege ich, was Ethan wohl gerade macht. Er ist nicht im High Hopes vorbeigekommen. Er hat mich auch nicht zurückgerufen. Und überhaupt haben wir uns seit der Abschiedsfeier im Gianni’s nicht mehr gesehen, da ich bei der tatsächlichen Abreise meiner Schwiegereltern nicht dabei sein wollte. Gianni, Marie und ich haben einen Tag zuvor schon Rotz und Wasser geheult, mehr konnten wir alle nicht aushalten.
Es ist etwas kühl draußen, eine steife Brise weht vom Meer. Der Oktober steht vor der Tür. Das ist mein Lieblingsmonat - die kürzeren Tage erscheinen mir nachsichtiger, irgendwie sanfter. Als ich die Park Street hinunterlaufe, stelle ich fest, dass die Ahornbäume rot und golden sind, die Buchen buttergelb.
An der Stelle, an der mein Vater begraben ist, bleibe ich kurz stehen und spähe über die Mauer. Wie praktisch, dass er nahe am Rand liegt - in seinem Fall muss ich kein so schlechtes Gewissen haben wie bei Jimmy. „Hey, Dad.“ Kurz rufe ich mir das Gesicht meines Vaters ins Gedächtnis und versuche dabei, mich wirklich an ihn zu erinnern und nicht nur an alte Filme oder Fotos. Ah. Hier ist es. Eine meiner Lieblingserinnerungen, etwas abgenutzt, aber noch genauso lebhaft wie immer. Wie Daddy mich beim Schaukeln mit seinen großen Händen anschiebt, das Kribbeln in meinem Bauch, der Wind in meinen Haaren und das laute Lachen meines Vaters hinter mir.
Traurigkeit steigt auf wie feuchter Nebel. Wenn meine Lazarus-Scones ihn nur auch zurückbringen könnten. Nur für einen Tag. Meinetwegen nur für eine Stunde. Gut, zehn Minuten. Ich will ja nicht gierig sein. Wenn ich ihn fragen könnte, was ich tun soll. Wenn ich seine Arme um mich spüren und seinen tröstlichen Daddy-Geruch einatmen könnte, den ich bis heute ab und zu noch irgendwo auffange, ungelogen. Wenn mein Vater mir sagen würde, dass alles gut wird, dann könnte ich es vielleicht glauben.
Na schön. Genug Selbstmitleid für heute. Außerdem beginnt die Pille offenbar zu wirken. Ich fühle mich irgendwie … leicht. Vielleicht hätte ich sie nicht vor einem Date nehmen sollen, andererseits: wann denn dann?
Im Lenny‘s angekommen, winke ich Tommy Malloy zu, der gerade mit Obie Chisholm Billard spielt. Carly Espinosa ist auch da - sie und ihr Ehemann Ted oder Todd, das kann ich mir einfach nicht merken, haben jeden Donnerstag eine feste Verabredung.
Dann sehe ich mich um - hmm. Komisch. Mein Kopf scheint sich noch immer zu bewegen, obwohl das gar nicht der Fall ist. Wie ist der Name von dem Typen noch mal? Irgendwas Seltsames. Ach ja. Corbin, wie Corbin Dallas, die Bruce-Willis-Rolle in „Das fünfte Element“. Ich liebe diesen Film. „Corbin Dallas“, rufe ich laut. Huch. Ja, man könnte sagen, dass die Pille auf jeden Fall wirkt. Irgendwie ein angenehmes Gefühl, als hätte ich gerade ein großes Glas Chardonnay getrunken.
Er scheint nicht hier zu sein. Ich setze mich in eine leere Nische, und sofort taucht Stevie vor meiner Nase auf.
„Ist das mit Tante Boggy verdammt noch mal zu glauben?“ In einer Hand hält er ein Martiniglas mit einem pinkfarbenen Getränk. Etwas Rauch schwebt darüber, und ich zucke zusammen. Weiß der Himmel, was da drin ist. Könnte alles von Trockeneis bis Formaldehyd sein, so wie ich Stevie kenne.
„Ja, ziemlich erstaunlich“, sage ich.
„Hey, du kommst doch auch, oder? Wenn ich den Rekord breche?“
„Gibt es wirklich einen Rekord im Küheüberspringen, Stevie?“
„Weiß nicht“, grummelt er und trinkt einen weiteren Schluck aus seinem Glas. „Wenn nicht, kann ich ihn aufstellen.“
„Klar komme ich. Klingt lustig.“
„Schau mal, Lucy.“ Stevie kippt den Kopf nach hinten und balanciert das Martiniglas auf seiner Stirn. „Cool, oder?“
„Verdammt cool, Stevie“, bestätige ich.
„Okay, ich muss los.“ Stevie nimmt das Martiniglas von der Stirn, wobei etwas von dem Drink in sein Haar tropft.
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