Lucy Sullivan wird heiraten
Depressionsphase meiner Jugend, jedenfalls sagte ich das gern. Wahrscheinlich war es einfach Trägheit, aber wenn ich es Depression nannte, brauchte ich kein so schlechtes Gewissen zu haben.
Ich konnte mich kaum ins Bad schleppen, und als ich erst dort war, kostete es mich eine Wahnsinnsmühe, mich zum Duschen zu zwingen.
In meinem Zimmer war es eiskalt, ich konnte keine frische Unterwäsche finden und hatte auch nichts gebügelt, so daß ich anziehen mußte, was ich am Vortag getragen und vor dem Schlafengehen einfach auf den Fußboden geworfen hatte. Da ich auch in Karens und Charlottes Zimmer keinen frischen Slip fand, mußte ich mein Bikini-Unterteil ins Büro anziehen.
Am U-Bahnhof waren alle interessanten Zeitungen schon ausverkauft, und eine U-Bahn fuhr mir vor der Nase weg. Während ich auf dem Bahnsteig wartete, überlegte ich, daß ich eine Packung Schokolinsen aus dem Automaten ziehen könnte. Ausnahmsweise funktionierte das verdammte Ding auch, und ich schlang die Schokolinsen in zwei Sekunden hinunter. Gleich darauf hatte ich ein richtig schlechtes Gewissen und machte mir Sorgen, daß ich möglicherweise an einer Eßstörung litt, wenn ich schon am frühen Morgen Heißhunger auf Schokolade hatte.
Ich fühlte mich elend. Es war kalt und naß. Es schien so wenig zu geben, auf das man sich freuen konnte, und ich wollte daheim in meinem warmen Bett sein, einen Stapel Illustrierte griffbereit, und mir im Fernsehen die Vormittags-Talk-Show Richard and Judy ansehen und dabei Kartoffelchips und Kekse essen!
Als ich mich mit zwanzig Minuten Verspätung ins Büro schleppte, hob Megan den Blick von ihrer Zeitung.
»Hast du dich gestern abend nicht ausgezogen?« fragte sie munter.
»Wie kommst du darauf?« fragte ich matt.
»Du siehst aus, als hättest du in deinen Klamotten geschlafen«, erläuterte sie.
»Ach, hör doch auf«, sagte ich. An solchen Tagen war mir ihre australische Direktheit einfach zuviel. »Wenn du findest, daß ich von außen schlimm ausseh, solltest du erst mal sehen, was für Unterwäsche ich anhab.«
Megan bügelte ihre Sachen sogar dann, wenn sie nur fünf Minuten Schlaf bekommen hatte. Falls sie keine saubere Unterwäsche mehr hatte, nahm sie sich die Zeit, auf dem Weg ins Büro welche zu kaufen. Allerdings bestand keinerlei Gefahr, daß sie je in diese Verlegenheit käme, denn sie wusch immer so rechtzeitig, daß ihre Wäscheschublade nie leer wurde. Typisch Australier. Ein arbeitsames Volk. Zäh. Führen ein geregeltes Leben.
Der Tag ging normal weiter. Von Zeit zu Zeit malte ich mir eine Katastrophe aus, bei der ein Flugzeug vom Himmel stürzte, wie damals über Lockerbie, und in unserem Büro aufschlug. Sicherheitshalber am besten auf meinem Schreibtisch. Dann würde ich ewig nicht mehr zur Arbeit gehen müssen. Natürlich könnte ich auch tot sein, aber auch dann brauchte ich nicht zur Arbeit zu gehen.
In regelmäßigen Abständen öffnete sich die Tür zu Mr. Simmonds Büro. Er kam mit wabbelndem Hinterteil heraus, warf mir, Meredia oder Megan ein Blatt auf den Schreibtisch und brüllte dazu »Achtundvierzig Tippfehler. Sie steigern sich von Tag zu Tag« oder »Wer von Ihnen hat Tippex-Aktien gekauft?« oder eine andere Unfreundlichkeit.
Hetty behandelte er nie schlecht, weil er Angst vor ihr hatte. Ihre Damenhaftigkeit erinnerte ihn daran, daß er ein durchschnittlicher Junge aus der Mittelschicht war und Kunstfaser-Anzüge trug.
So gegen zehn vor zwei entfaltete sich im Büro ein kleines Drama, und mit einem Schlag schien sich die Megan gemachte Voraussage zu erfüllen. Ich hing gerade über meinem Schreibtisch und las einen Artikel darüber, was für eine Wohltat Kaffee sein kann, und Meredia schnarchte leise an ihrem Schreibtisch vor sich hin, eine große Tafel Schokolade griffbereit neben sich.
Megan kam mit einem Gesicht weiß wie ein Laken hereingewankt. Aus ihrem Mund floß Blut.
»Megan!« rief ich beunruhigt aus und sprang von meinem Schreibtisch auf. »Was ist passiert?«
»Äh?« fragte Meredia, die verwirrt zu sich kam, wobei ihr ein dünner Speichelfaden aus dem linken Mundwinkel lief.
»Es ist nichts«, sagte Megan. Allerdings sah sie ziemlich angegriffen aus, als sie sich auf meinen Schreibtisch setzte. Blut lief ihr über das Kinn auf die Bluse.
»Ich ruf ’nen Krankenwagen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte ich, von Panik ergriffen und gab ihr eine Handvoll Papiertaschentücher, die sich sogleich mit Blut vollsogen. »Das mach ich
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