Lucy
blieb regungslos liegen und ließ langsam alle Gedanken los. Sie konnte sich selbst sehen, als würde sie von oben auf den Käfig herabblicken: ein totes Mädchen, das schmutzig und blutverschmiert auf einem verdreckten Betonboden lag, in absurder Verrenkung und mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Lucy war nicht sicher, wie lange sie so dagelegen hatte, als sie wieder den Schlüssel im Schloss hörte. Sie hielt den Atem an und wagte es nicht, einen Blick zu riskieren. Es würde entweder klappen oder nicht. Dazwischen gab es nichts. Sie hörte Schritte, der Mann schnappte erschrocken nach Luft, dann das Wort »Scheiße«. Und wieder Schritte. »Was zum Teufel –« Sie hörte ein Poltern, als er das Gewehr abstellte, ein Klirren und dann das Geräusch des großen Schlüssels, der sich im Schloss der Käfigtür drehte.
»Gottverdammich«, hörte sie ihn sagen.
Ihr Herz hämmerte. Kaum wahrnehmbar hob sie die Lider und erlaubte sich einen Blick durch die Augenschlitze. Sie sah seinen Stoppelbart und einen kleinen Leberfleck an seinem Hals, als er näher kam, um sie sich genauer anzusehen. Ein geradezu elektrischer Schub von Energie schoss durch ihren Körper und bis in die Beine hinab.
Das war es, was sie im Dschungel gelernt hatte. Manches geht automatisch. Wenn eine Großkatze hinter einem her ist, muss man den richtigen Augenblick abpassen. Man hat nur diese eine Chance zum Handeln. Mehr noch als ihre Kraft war es das gewesen, was sie zur guten Ringerin gemacht hatte. Man trifft keine Entscheidungen mehr. Man handelt einfach, gesteuert von einer Ebene, die unterhalb des Bewusstseins liegt. Ein Impuls steigt in einem auf, der unwiderstehlich ist, weil er richtig ist, und wenn er nicht richtig ist, dann trägt man eben nicht weiter zum Genpool bei. Das war es, was |364| Lucy in diesem Augenblick fühlte. Was sie tun musste, stand fest und war unumstößlich. Der Wald hatte es so eingerichtet.
Als der Mann sich über sie beugte, zog Lucy blitzschnell die Knie an die Brust und trat ihm mit beiden Füßen so heftig gegen den Kopf, dass es ihn zurückschleuderte. Sie hörte es krachen, als er durch den Käfig flog und sein Kopf an die Gitterstäbe schlug. Der ganze Käfig vibrierte noch, als er mit einem schweren Seufzen und schiefem Hals an den Stäben herabglitt. Lucy war bereits auf den Beinen, rannte aus dem Käfig und griff nach dem ersten schweren Gegenstand, den sie zu fassen bekam, ein Betonstein. Es lief alles wie in Zeitlupe ab, absolut klar und deutlich. Sie rannte zurück in den Käfig, blieb vor ihm stehen und hob den Betonstein mit beiden Händen hoch, jederzeit bereit, ihm den Schädel zu zertrümmern. Sie wartete, ob er sich bewegen würde, doch sein Genick war gebrochen. Schließlich hörte er auf zu atmen. Der Geruch seines Blutes war scharf und metallisch. Sie sah es in den Abfluss rinnen, in den der Hausmeister Urin und Kot gespült hatte.
Keuchend und feucht von Schweiß ließ Lucy den Betonstein sinken und verließ den Käfig. Sie zog den Patientenkittel aus und spülte ihn mit dem Wasserschlauch sauber. Dann wickelte sie ihn wieder fest um sich und griff nach dem Betonstein. Behände kletterte sie von außen die Gitterstäbe des Käfigs hinauf und weiter an den Stahlträgern, die die Wände entlangliefen, bis unter die gewölbte Decke. Als sie das Oberlicht erreicht hatte, warf sie den Betonstein in die Fensterscheibe. Sie sah die glitzernden Scherben fallen, zog sich hinaus aufs Dach und rutschte bis zur Regenrinne. Mit einem raschen Blick schätzte sie die Höhe ab, und dann sprang sie statt zu klettern, rollte sich bei der Landung so geschickt ab, dass sie gleich wieder auf die Beine kam, und verschwand in der dunklen Nacht.
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Amanda wollte zu einem Vorstellungsgespräch für einen Job und sich dann mit ihrer Mutter zum Lunch treffen, um ihre gestörte Beziehung wieder etwas ins Lot zu bringen. Die Ferienzeit war vorüber. Doch Amanda hatte beschlossen, jetzt noch nicht aufs College zu gehen. Sie wollte sich alle Möglichkeiten offenhalten, bis sie wussten, was Lucy zugestoßen war. Jenny und sie waren sich einig darin, dass es nicht gut für sie war, nur zu Hause herumzusitzen und sich Sorgen zu machen. Amanda musste raus und ihr eigenes Leben leben, sich mit jungen Leuten ihres Alters treffen und wieder teilnehmen am gesellschaftlichen Leben. Auch Jenny brauchte etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte, und so half sie wieder ehrenamtlich im Mädchenheim mit. Nina, die
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