Lucy
Heimleiterin, hatte sich sehr über ihre Rückkehr gefreut und zur Begrüßung gesagt: »Jetzt bist du so weit, das weiß ich. Ich glaube, ich habe genau das Richtige für dich, um dich von deinen eigenen Sorgen abzulenken.« Und sie hatte Jenny ein sechzehnjähriges Mädchen vorgestellt, dessen Vater sie zwei Jahre lang in einen Keller gesperrt hatte.
Jenny hatte gerade Kaffee gemacht. Sie konnte Amanda oben im Zimmer der Mädchen rumoren hören, wo sie sich für das Vorstellungsgespräch anzog. Jenny ging vor die Haustür und holte die Zeitung herein. Es war einer jener Herbsttage, an denen sie froh war, in einem Landstrich zu wohnen, wo es tatsächlich Jahreszeiten gab. Hohe dünne Wolken zogen rasch über den Himmel in Richtung des Sees. Die Sonne ließ |366| die Farben aufleuchten, und der Wind blies ihr so stark ins Gesicht, dass sie rasch ins Haus zurücklief.
In der Küche überflog sie die Schlagzeilen. Wie viel mehr wollte sie über die Krisen im Nahen Osten erfahren? Wie viel Gewalt sollte sie sich heute Morgen antun? Sie fragte sich, warum sie die Zeitung überhaupt noch abonnierte. Aber sie kannte die Antwort: Weil ihre Mutter es ein Leben lang getan hatte.
Amanda kam herunter und sah sehr schick aus in ihrem grauen Hosenanzug und dem schwarzen Kaschmirpullover.
»Frühstück?«, fragte Jenny.
»Nur ein paar Frühstücksflocken.«
»Choco Krispies?«
»Hm, lecker.«
Sie tauschten einen Blick, dann schlug Jenny den Teil mit den Inlandsnachrichten auf, in dem kurze Zusammenfassungen von Ereignissen in den verschiedenen Bundesstaaten standen. In Texas war in einem McDonald’s ein Doppelmord begangen worden. In New Jersey hatte es in einer Chemiefabrik eine Explosion gegeben. In Manhattan war ein Bauarbeiter von einem Gerüst gefallen und auf einem Auto gelandet, was nicht nur ihn, sondern auch den Fahrer das Leben gekostet hatte. In New Mexico war ein Tierarzt in einem Primaten-Forschungszentrum von einem Schimpansen getötet worden. Dieser Bericht kam Jenny schon in dem Moment seltsam vor, als sie ihn las. Aber Zeitungsberichte waren oft seltsam und warfen meist mehr Fragen auf als sie beantworteten, deshalb schenkte sie dem zunächst weiter keine Beachtung.
Sie schnitt eine Banane in ihr Müsli. »Um wie viel Uhr ist dein Vorstellungsgespräch?«
»Um elf.«
»Und was für ein Job ist es?«
|367| »Internes Marketing. Ich werde danach übrigens noch etwas shoppen gehen, wenn ich schon in der Stadt bin. Hast du auch Lust auf ein paar Frustkäufe?«
»Nein, danke. Ich will ins Mädchenheim fahren. Sie haben ein neues Mädchen aufgenommen. Schreckliche Geschichte. Du willst sie gar nicht wissen.«
»Nein, lieber nicht.«
Als sie den Tisch abräumten, gewann etwas, das Jenny schon die ganze Zeit im Hinterkopf herumspukte, klare Gestalt. Sie trocknete sich die Hände ab, ging zum Tisch zurück und blätterte einen Moment in der Zeitung. Dann hatte sie den Artikel gefunden, nach dem sie suchte. Amanda belud die Spülmaschine, während Jenny ihn noch einmal las. Ein Tierarzt. Ein Schimpanse. In dem Bericht hieß es, dass ein 3 9-jähriger Schimpanse namens Buddy aus seinem Käfig entkommen sei, als ein Mitarbeiter ihn betrat. Dem Gerichtsmediziner zufolge wurde Robert Walton, 41, mit gebrochenem Genick tot aufgefunden, als die Leute der Morgenschicht zur Arbeit kamen. »Was?«, sagte Jenny zu sich selbst.
»Wieder irgendwelcher Unsinn über Lucy?«, fragte Amanda.
Nach Lucys Verschwinden hatte es noch einiges Palaver im Kongress gegeben. Doch die Senatsvorlage 5251 war verabschiedet worden und trübte seither die Stimmung all derer, die versucht hatten, Lucy zu beschützen. Ruth Randall hatte eine Belohnung ausgesetzt für den, der Lucy wohlbehalten zurückbrachte. Der Prozess, den Sy Joseph auf den Weg gebracht hatte, schleppte sich durch ein endloses Labyrinth dahin.
»Komm und sieh dir das mal an«, sagte Jenny.
Amanda trocknete sich die Hände ab und las den kurzen Bericht. »Ja, ganz schön schlimm. Glaubst du, der Tierarzt hat einen Fehler gemacht?«
|368| »Nun, viel geht ja nicht daraus hervor. Bei einem Schimpansen-Männchen mittleren Alters muss man ziemlich aufpassen. Aber das wirklich Seltsame ist eigentlich die Todesursache: Er hat sich das Genick gebrochen.«
»Na ja, Schimpansen sind doch sehr stark …«
»Ja, sie haben enorme Kräfte. Aber so kämpfen sie nicht. Sie haben sehr charakteristische Tötungsmethoden. Das Opfer wird nah herangezogen und grausam gebissen. Sie
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