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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Entsetzliches. Dessen war sie sich ganz sicher. Vielleicht tat er eine stärkere Dosis Betäubungsmittel in das Gewehr. Oder Gift. Die Möglichkeiten purzelten nur so durch ihre Gedanken, aber sie wusste, dass es gar nichts nützte, Mutmaßungen anzustellen. Was hatte Eisner gesagt? Keiner außer den Krankenschwestern und Pflegern, die sie schon kannte, dürften zu ihr hinein. Wer also war dieser Mann? »Gewisse höhere Mächte wollen dich tot sehen.« Lucy wusste, dass sie dem Mann den Vorteil, eine Waffe zu haben, irgendwie nehmen musste. Sonst würde er sie töten, daran zweifelte sie nicht. Sie musste den Mann dazu bringen, den Käfig zu öffnen und hereinzukommen. Im Nahkampf könnte sie ihn bezwingen.
    |361| Denk nach, sagte Lucy sich. Denk nach. Denk nach. Ihr fiel ein Gespräch ein, das sie einst mit ihrem Vater über das Beten geführt hatte. Sie hatte etwas über das Beten gelesen, und er hatte ihr erklärt, dass sie nicht an Gott glaubten und deshalb auch nicht beteten. Aber Lucy hatte widersprochen und gesagt, dass sie sehr wohl betete, auch wenn sie nicht an Gott glaubte. »Zu wem betest du denn?«, hatte er gefragt. »Und was?«
    »Zum Wald«, hatte sie erwidert. »Ich bete, dass der Wald alle Dinge zum Guten wenden möge.«
    Tief in Gedanken versunken hatte ihr Vater geschwiegen, ehe er antwortete. »So habe ich es noch nie gesehen. Ich habe es nie Beten genannt, aber das tue ich natürlich auch. Der Wald ist der Ursprung allen Lebens. Ja, ich glaube, du hast recht«, hatte er gesagt und über sich selbst gelacht. »Wir beten vermutlich alle, selbst wenn es keinen Gott gibt.«
    Vielleicht hatte er sich geirrt, dachte Lucy. Vielleicht gab es doch einen Gott. Und so betete Lucy jetzt zu ihrem Gott, dem schon lang verlorenen Wald. Um Erleuchtung. Um Weisheit. Was konnte sie tun, ehe der Mann wiederkam, um ihn dazu zu bringen, die Käfigtür zu öffnen? Regungslos saß sie da und lauschte auf das Rauschen ihres Pulsschlags in ihren Ohren. Sie wartete noch auf Antwort aus dem Universum, als sie im Korridor Stimmen vernahm.
    »Nein«, sagte jemand. »Machen Sie da drin heute Abend nicht sauber. Ich habe die Pfleger nach Hause geschickt und will nicht, dass irgendwer den Raum des Hybriden betritt.«
    »Alles klar, Doc.« Lucy erkannte die Stimme des Mannes, der abends immer sauber machen kam.
    »Dann einen schönen Abend.«
    »Wiedersehn, Doc.«
    War dieser »Doc« der Veterinär auf Abruf, den Eisner erwähnt hatte? Er sollte doch nur im Notfall kommen. Aber |362| Lucy begriff: Er wollte keine Zeugen. Sie spürte, wie eine große Lethargie über sie kam, und sehnte sich einfach nur noch danach, zu schlafen. Dann plötzlich löste sich der Gedanke, auf den sie gewartet hatte, aus den Nebeln ihres Hirns wie die ersten Sonnenstrahlen frühmorgens im Wald.
    Lucy stand auf, nahm das Tablett mit dem Essen aus dem Schacht   – und warf es zu Boden. Überall waren weiße Flocken von Kartoffelbrei, wie Pilze. Sie trampelte auf dem Essen herum und verschmierte es im ganzen Käfig. Dann zerriss sie die Bettlaken und die Matratze und warf die Fetzen durch den Käfig. Sie riss sich die Bandage vom Kopf und die Drähte aus der Kopfhaut. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, als ihre Kopfhaut einriss, und sie zuckte zusammen. Doch sie zog sich den Patientenkittel aus, wischte damit das Blut ab, das ihr übers Gesicht lief, und zog ihn wieder an. Dann schmierte sie sich den Rest Blut auf Arme und Beine. Schließlich legte sie sich, so weit von der Käfigtür entfernt wie möglich, in verrenkter Haltung auf den Boden, damit es aussah, als wäre sie gestürzt. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie hörte nichts, nur das Summen der Lampen und des Belüftungssystems.
    Sie spürte, wie ihr Herz sich mit Furcht füllte und diese sich in den Magen und bis in die Beine ausbreitete, während die Stille immer lastender wurde. In Gedanken kehrte sie in den Wald zurück, zu jenem Tag, als das Leopardenweibchen kam und den armen kleinen Offie holte. Sie erinnerte sich noch gut, mit welch ungezügelter Wildheit die Bonobos zum Gegenangriff ausgeholt hatten. Offie war zwar tot, aber sie alle hatten sich zusammengerottet, geschrien und getobt und die Großkatze mit Steinen beworfen. Schließlich fand Lucy in dieser Geschichte, was sie brauchte: Rage. Schiere Rage schon allein bei der Vorstellung, was diese Leute hier ihr antun wollten. |363| Plötzlich war sie hellwach und voller Kraft und Energie. Doch sie

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