Lucy
Charme spielen zu lassen und ihre kritischen Bemerkungen mit kleinen Witzen zu entschärfen. Doch als Jenny ihre Mutter nach Hause fuhr, sagte Mrs Lowe zu ihr: »Jennifer, du kannst nicht ganz bei Trost sein, wenn du wirklich vorhast, dieses Mädchen zu adoptieren.«
»Ich habe es nicht nur vor, Mutter. Ich bin schon dabei.«
»Sie hat etwas höchst Seltsames an sich.«
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß nicht, ich kann es nicht genau benennen.«
»Sie ist eben in einem fremden Land aufgewachsen.«
»Das allein ist es nicht. Denk an meine Worte, das alles wird dir eines Tages noch Kummer bringen.«
Jenny wusste es. Sie wusste, was ihre Mutter spürte. Eines Tages würde irgendein aufdringlicher Wichtigtuer diesem unterschwelligen Unbehagen weiter nachgehen. Sie hatte noch keine genaue Vorstellung davon, wie es geschehen würde. Doch schon der Gedanke verursachte ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Bereits die offiziell bekannten Umstände waren ja derart ungewöhnlich, dass sie die Leute zu allen möglichen Fragen reizten. Charlie hatte Lucy noch nie gesehen, und dennoch schien er schon jetzt mehr Erklärungen einzufordern, als Jenny ihm geben wollte. Warum sollte eine Anthropologin mitten in ihrer beruflichen Laufbahn plötzlich ein Kind aus Afrika adoptieren wollen? Es hatte alles damit angefangen, dass Lucy zu ihrer Familie in England gebracht werden sollte. Das war ein Argument, das noch nachvollziehbar war. Aber es gab eben keine Verwandten mehr, und außerdem hatte Lucy längst Jennys Herz erobert.
|126| Ungefähr eine Woche später trafen sich Jenny und Harry in einem der einfachen griechischen Schnellrestaurants, die es überall in Chicago gab und die Dutzende von Gerichten auf ihren langen laminierten Speisekarten führten. Als sie sich kennenlernten, hatte Harry Jenny das Geheimnis anvertraut, dass unter den Squashplätzen der Universität von Chicago verborgen eine Großküche lag, die sämtliche griechischen Restaurants in der Gegend mithilfe eines Druckluftrohrsystems belieferte.
Sie plauderten eine Weile über alles mögliche. Harry war in der Regel viel zu beschäftigt, um sich über die Ereignisse im Rest der Welt Gedanken zu machen. Aber er konnte hartnäckig wie ein Detektiv sein, wenn er ein Rätsel vor sich hatte. Ganz beiläufig begann er mit der Frage, wie Lucy sich eingewöhne. Jenny versicherte ihm, dass es dem Mädchen gutging und sie in Amanda schon eine richtige Freundin gefunden hatte.
»Jennifer«, sagte er darauf und sah sie eine ganze Weile einfach nur an. Den Namen Jennifer benutzte er nur, wenn er sie wissen lassen wollte, dass er nicht länger zu Scherzen aufgelegt war. »Wie lange kennen wir uns nun schon?«
»Schon sehr, sehr lange, Harry. Wir haben gemeinsam die Berliner Mauer fallen sehen, weißt du noch?« Sie versuchte, ihn mit Erinnerungen von einer anderen Spur abzubringen. Jenny würde nie vergessen, wie Harry eines Tages mit dem Auto von Chicago angefahren kam und in ihr winziges Büro im Zoo von Milwaukee stürmte. »Komm mit«, rief er, »wir fliegen nach Deutschland!«
»Warum das denn?«
Mit seinem intensiven Blick und fast atemlos hatte er gesagt: »Die Berliner Mauer wird fallen.« Harrys Darth-Vader-Stimme.
|127| Er hatte sie zu ihrem Apartment gefahren und zugesehen, wie sie ein paar Sachen in eine Reisetasche warf. Er selbst hatte nur einmal Wäsche zum Wechseln dabei. Binnen Stunden saßen sie im Flugzeug. Und am Tag, nachdem die Mauer gefallen war, hockten sie tatsächlich in Berlin am Straßenrand. Jennys Jeans waren völlig verdreckt, und Harry hatte sich schon seit Tagen nicht mehr rasiert. Er hatte seine Baseballkappe der Chicago Cubs abgenommen und hielt sie in der Hand. Ein Mann in einem teuer aussehenden grauen Anzug lief an ihnen vorbei, blieb plötzlich stehen, machte kehrt und kam zu ihnen zurück. Und dann griff er doch tatsächlich in seine Hosentasche und warf ein paar Geldscheine in Harrys Kappe. Sie hatten beide noch nie in ihrem Leben so gelacht.
Jetzt, in dem kleinen Restaurant, fragte er: »Vertraust du mir nicht?«
»Natürlich vertraue ich dir, Harry. Du bist mein bester Freund. Aber ich bitte dich einfach um Geduld. Ich bin noch nicht so weit, darüber zu reden, okay? Respektiere das doch bitte.«
Harry entging nie etwas. »Wirst du denn Zeit genug für deine ehrenamtliche Arbeit im Mädchenheim haben, wenn Lucy bei dir lebt?«
Wie verständnisvoll er ist, dachte Jenny später und fragte sich, ob ihre Mutter
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