Lucy
sagen kann, ob man in Sicherheit ist oder in Gefahr schwebt.
»Du solltest etwas schlafen«, sagte Jenny zu Amanda.
»Nein, ich bleibe. Ich möchte hier sein, wenn sie aufwacht.«
Dann schwiegen sie. Jetzt wird es herauskommen, dachte Jenny. Gene lügen nicht. Bei der Suche nach einer Erklärung dafür, wie sich ein Mensch mit EMCV 30 / 87 anstecken konnte, musste Dr. Syropoulos die für Seuchenbekämpfung zuständige Gesundheitsbehörde in Atlanta über den Fall informieren. Es würde zu einer Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit werden. Und innerhalb von Wochen, ja vielleicht nur Tagen, würde die Welt die Wahrheit über Lucy erfahren. Jenny musste Kräfte sammeln für das, was auf sie alle zukommen würde. Mit Donna in Milwaukee hatte sie schon gesprochen. Donna hatte sich bereit erklärt zu helfen, falls es nötig werden sollte. Aber das war nur eine letzte Zuflucht. Eines vor allem konnte Jenny im Augenblick gar nicht einschätzen: Wie würde die Welt auf Lucy reagieren?
»Jenny«, sagte Amanda auf einmal.
»Ja?«
»Als wir auf die Wanderung gingen …?«, begann sie in einem Tonfall, als würde sie eine Frage stellen.
»Ja?«
|186| »Glauben Sie, ich werde auch krank?«
»Nein. Warum?«
Amanda zögerte. Jenny sah das Mädchen an, so schön, so unschuldig, so intelligent. »Was ist denn, Liebes? Du kannst es mir ruhig sagen.«
»Ich habe sie geküsst. Im Wald.«
Mitgefühl für die beiden erfasste Jenny. Die ganze Welt wird es bald wissen, dachte sie, doch Amanda sollte die Erste sein, die es erfährt. Sag es ihr, dachte sie. Damit sie weiß, warum sie nicht krank werden wird. Nein, nicht hier. Nicht jetzt.
Jenny griff nach Amandas Hand, legte einen Finger an die Lippen und blickte sich um, ob eine Krankenschwester in der Nähe war. Sie wusste, dass man ihre Worte über die Sprechanlage, die für die Notfälle der Patienten gedacht war, mithören konnte.
»Darüber reden wir später«, flüsterte Jenny. »Aber du wirst nicht krank werden. Vertrau mir. Es ist alles okay. Ich erkläre es dir später.«
»Okay«, flüsterte Amanda zurück, wirkte aber immer noch besorgt. Doch dann fügte sie hinzu: »Ich bin so egoistisch. Eigentlich sollte ich an Lucy denken.«
»Sch«, machte Jenny. »Es geht ihr bald wieder gut. Und dir auch. Versprochen.«
|187| 19
Sie hatte heftig gezittert und einfach nur schlafen wollen, daran erinnerte Lucy sich noch. Dann lag Amanda bei ihr im Bett. Ihr Körper war so schön warm, und Lucy wollte nach ihr greifen, sie halten, doch da war Amanda schon wieder weg. Und als Nächstes schlug sie die Augen auf und sah Jenny in einem Lehnsessel schlafen. Amanda lag in ihren Schlafsack gekuschelt auf dem Boden, und durch das Fenster fiel Sonnenschein herein. Lucy hatte Hunger. Dann merkte sie, dass sie in einem seltsamen Zimmer war, mit seltsamen Maschinen und unvertrauten Geräuschen. Ein Schlauch steckte in ihrem Arm. Verängstigt begann Lucy zu schreien. Sie sah Jenny durchs Zimmer laufen und hörte sie sagen: »Schatz, ganz ruhig, es ist alles okay. Ich bin ja da. Du warst sehr krank. Du bist im Krankenhaus. Ich bringe dich bald wieder nach Hause.«
Dann stand plötzlich eine Krankenschwester in der Tür. »Was ist hier los?«, fragte sie mit verärgerter Miene.
»Tut mir leid«, sagte Jenny. »Sie hatte einen Albtraum.«
Amanda hatte sich inzwischen auch aufgesetzt und sah sich um. »Was ist los?«, fragte auch sie.
»Ich habe geschrien«, erwiderte Lucy. »Entschuldige.«
»Ich sage Dr. Syropoulos, dass sie aufgewacht ist«, sagte die Krankenschwester und ging wieder.
»Was ist passiert?«, fragte Lucy.
»Du hattest Krämpfe und hohes Fieber«, begann Jenny. »Ich hatte keine andere Wahl, tut mir leid. Sie haben dir Medikamente |188| gegeben, und jetzt wird es dir schon bald besser gehen.«
Lucy spürte eine Unruhe im Großen Strom. Aber sie fühlte sich ganz groggy und war sich nicht sicher, was genau sie wahrnahm. Jenny beugte sich dicht zu ihr und zeigte auf ein Gerät mit einer langen Schnur an ihrem Bett, auf dem in roten Buchstaben »Notruf« stand. Sie legte einen Finger vor den Mund und griff nach einem Notizblock. »Sie können uns hören«, schrieb sie darauf, und dann noch etwas. Sie hielt das Papier so, dass Lucy es lesen konnte. »Sie haben deine DNA«, stand dort.
»Oh, nein«, stöhnte Lucy.
»Was? Was heißt das?«, fragte Amanda.
Jenny sah von einem Mädchen zum anderen und schüttelte den Kopf. »Ruhig«, sagte sie. »Ganz
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