Lucy
du solltest es Amanda jetzt endlich sagen. Schon bald wird die ganze Welt es wissen.«
Lucy fürchtete sich davor, weil sie nicht wusste, wie Amanda reagieren würde. Sie hätte es ihr längst sagen müssen, dachte Lucy. Doch als sie es im Wald von Boundary Waters versucht hatte, hatte Amanda ihr nicht geglaubt. Noch nicht. Damals noch nicht.
»Was wird schon bald die ganze Welt wissen?«, fragte Amanda. Die dichten Wälder zu beiden Seiten des Highway wurden immer dunkler. Ein Lastwagen donnerte in Richtung Norden an ihnen vorbei, mit eingeschalteten Scheinwerfern. Der Himmel hatte etwas Grollendes angenommen.
»Dass ich nur zur Hälfte Mensch bin. Meine Mutter war ein Bonobo.«
»Ein Bonobo?«, fragte Amanda. »Was ist das denn?«
»Bonobos sind Menschenaffen«, schaltete sich Jenny ein. »Ähnlich wie Schimpansen. Sie wurden lange Zwergschimpansen genannt, aber eigentlich sind sie eine eigene Spezies und mit dem Menschen sehr eng verwandt.«
|198| Einen Augenblick lang saß Amanda nur da und dachte nach. »Ihr macht Witze, oder?«
»Nein«, erwiderte Jenny. »Was Lucy sagt, ist wahr. Daher wirst du auch nicht an diesem Virus erkranken. Ich wollte es dir im Krankenhaus nicht erzählen. Aber Lucy hat diese Krankheit nur bekommen, weil sie genetisch zum Teil Bonobo ist. Ihr Vater war Primatologe und hat im Kongo lange die Bonobos erforscht. Und irgendwann hat er dann beschlossen, ein Bonoboweibchen mit menschlichem Sperma zu befruchten. Mit seinem eigenen. Lucy wurde von einer Menschenäffin geboren.«
Amanda schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott. Oh mein Gott. Das ist überhaupt nicht witzig. So was ist doch gar nicht möglich, oder? Sagt mir, dass das bloß ein schlechter Witz ist, okay?«
»Tut mir leid, Amanda«, sagte Lucy. Ein kalter Windstoß fuhr aus den dunklen Wolken herab, und dicke Regentropfen begannen auf die Windschutzscheibe zu platschen. Der Geruch von feuchtem Staub und Öl stieg von der Straße auf.
»Es ist kein schlechter Witz, Amanda«, sagte Jenny. »Es ist die Wahrheit, und Lucy lebt. Und an ihrer Blutprobe werden die Ärzte sofort sehen, dass sie genetisch zum Teil Bonobo ist. Ihr behandelnder Arzt hatte es schon erkannt, bevor wir das Krankenhaus verließen, und er wird es weitererzählen. Wir müssen uns also überlegen, was wir tun wollen.«
»Oh mein Gott. Anhalten, sofort anhalten.«
Jenny fuhr auf den Seitenstreifen, und Amanda sprang schon aus dem Auto, noch ehe es richtig stand. Schwer atmend und bleich stand sie im prasselnden Regen.
»Ist dir schlecht, Amanda, musst du dich übergeben?«, fragte Jenny durch die offene Beifahrertür.
»Ich weiß nicht. Ich brauche bloß frische Luft. Ihr macht |199| mir total Angst. Wenn das doch bloß ein Witz ist, dann ist das echt gemein.«
Aber Lucy wusste, dass Amanda längst nicht mehr an einen Witz glaubte. Dazu war Jennys Tonfall viel zu nüchtern und sachlich gewesen. Jetzt schossen Amanda all die Hinweise durch den Kopf, die sie bisher nicht hatte zusammenfügen können und die nun plötzlich Sinn ergaben – Lucys Geruch, ihre Kraft, ihre Andersartigkeit. Die Reaktion von Amandas Hund Cody.
Lucy wartete nervös, wie sie reagieren würde. Amanda war ihre beste Freundin, ihre einzige richtige Freundin. Die nun wusste, dass Lucy sie die ganze Zeit belogen hatte.
Der Regen wurde stärker, in der Ferne donnerte es. Lucy stieg ebenfalls aus dem Auto und ging zu Amanda. »Bitte hasse mich nicht, Amanda. Ich habe doch versucht, dir die Wahrheit zu sagen.«
Ganz langsam drehte Amanda sich einmal um sich selbst und betrachtete diese Welt, die sich für immer verändert hatte. Dann sah sie Lucy wieder ins Gesicht und brach in Tränen aus. Lucy umarmte sie und hielt sie fest. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid. Aber ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte.« Amanda weinte in ihren Armen, während auf dem regennass glänzenden Highway die Autos und Lastwagen vorbeirasten. Eine Schar Kanadagänse zog in langgestreckter V-Formation durch den schwarzblauen Himmel hinter ihnen, und der Wind trug ihr entferntes Geschnatter heran. Inzwischen war auch Jenny aus dem Auto ausgestiegen und zu den beiden Mädchen getreten.
Als ein Blitz durch die Wolkendecke stieß, richtete Amanda sich auf und fragte: »Werden sie dich irgendwohin bringen?«
»Wir wissen noch nicht, was passieren wird, Liebes«, erwiderte |200| Jenny. »Aber ich werde nicht zulassen, dass man Lucy irgendwohin bringt. Niemals.«
Mit
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