Luderplatz: Roman (German Edition)
massierte seine Schläfen. Er wusste, dass er sich hätte rasieren müssen, doch das hätte bedeutet, dass er zu spät in der Praxis erschienen wäre. In seiner Praxis. Es war also eine Abwägungssache gewesen. Würden die Westbeveraner Anstoß an dem stoppeligen Schatten in seinem Gesicht oder an seiner Unpünktlichkeit nehmen – und was wog schlimmer? Er rasierte sich nicht, fuhr die kurze Strecke nicht mit dem Rad, sondern in seinem blauen Golf und öffnete um kurz nach 7.30 Uhr die Praxisräume. Arzthelferin Susanne kam zeitgleich an und blinzelte ihm verschwörerisch zu. War sie gestern auch im Gasthaus König gewesen? Oh, ja. Kai erinnerte sich. Sie hatte ihm zugewinkt, als sie – nüchtern und zu einer angemessenen Uhrzeit – gegangen war. Gerade als er seinen dritten oder fünften Schnaps getrunken hatte. Wegen ihr. Mit ihr.
Die Tür zum Behandlungszimmer öffnete sich, und Karl Linnenbecker trat ein. Er schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch. Während er sich setzte, hustete er sehr laut, und seine Gesichtsfarbe war entgegen deren Gewohnheit nicht rot gefleckt, sondern eher weiß. Kai kannte Karl, wie man sich kennt, wenn man im gleichen Dorf groß wurde. Vom Sehen. Irgendwie. Schon immer. Aber nur flüchtig. Sie waren nicht in dieselbe Klasse gegangen, Karl spielte Fußball seit der E-Jugend, Kai erst Handball und später Tischtennis. Karl blies das Jagdhorn, Kai hat nie ein Musikinstrument gelernt, obwohl das seiner Mutter sicher gefallen hätte.
»Na, dich hat ’ s aber erwischt«, begann Kai also ganz formlos das Arzt-Patienten-Gespräch.
»Jau. Ich brauch ’ nen Gelben«, antwortete Karl. Er wollte eine Krankschreibung von Kai. Dass er eine mächtige Erkältung hatte, brauchte ihm niemand mehr zu sagen.
Kai wollte ihn trotzdem noch einmal abhören, sichergehen, dass es keine Bronchitis war, an deren Ende die Gefahr einer Lungenentzündung bestünde, erklärte er. Und so machte sich Karl – ein bisschen widerwillig – frei. Kai lauschte auf die Laute, die die Karls Lunge von sich gab. Karl interessierte das nicht. Er wollte lieber plaudern.
»Hast du eigentlich mal wieder was von Nana gehört?«
Kai antwortete nicht. Er horchte auf die grob-bis mittelblasigen Rasselgeräusche, die typisch für eine Bronchitis waren.
»Ihr Vater ist gestorben«, fuhr Karl fort. »Hab öfter in seinem Revier gejagt.«
Kai nickte und nahm das Stethoskop aus seinen Ohren. »Du kannst dich wieder anziehen«, sagte er und griff nach Kuli und Rezeptblock.
»Ganz schönes Luder, die Kleine, ne?« Karl grinste den Arzt an.
Kai reichte ihm das Rezept. »Wir versuchen es erst einmal mit einem Schleimlöser«, sagte er. »Dreimal täglich. Wenn Fieber dazukommt, musst du wiederkommen. Okay?«
Karl nickte. Irgendwie fand er, dass Kai arrogant rüberkam. Man kann gar nicht richtig mit ihm reden, dachte er. Der Herr Doktor hält sich wohl für was Besseres.
»Wie geht ’ s Ihrer Kamera?« Frank Metzger schien wirklich besorgt um Marios Ausrüstung – und um den Fotografen. »Und was ist mit Ihnen? Habe ich Ihnen den Appetit verdorben?«
Mario riss sich zusammen. »Kamera läuft Gott sei Dank. Hab sie gerade erst neu. Und den Appetit habe ich mir wohl eher selber verdorben – Kater.«
Metzger lächelte verständnisvoll, und Viktoria atmete erleichtert auf. Endlich. Mario hatte es begriffen. Arschbackenzusammenkneifen war angesagt. Und er tat es.
Sie konnte sich also voll und ganz auf das Interview mit Professor Metzger konzentrieren. Was nicht leicht war, denn sie saßen in der Mensa der Medizinischen Fakultät der Universität Münster. Um sie herum wuselte es von Studenten und Studentinnen, da wurde gelacht, getratscht, gerufen, geschoben, gerempelt, geflucht. Den Professor schien die Geräuschkulisse überhaupt nicht zu stören. Er hatte offensichtlich Hunger und behauptete, dass es nirgends ein besseres – und preiswerteres – zweites Frühstück gäbe als hier, zwischen all dem Jungvolk.
Ein guter Einstieg für Viktoria. Sie unterhielt sich mit Metzger über dessen künftige Stelle in Berlin.
»Dort ist es sicherlich auch ein bisschen hektischer als im beschaulichen Münsterland«, sagte sie. »Doch wie ich sehe, stört sie das gar nicht.« Sie blickte in das Menschengewusel.
»Nein, da haben Sie recht. Und die Arbeit wird in etwa gleich sein«, ergänzte er. »Obduktion ist Obduktion. Tot ist tot.«
Viktoria schrieb mit. Dann gab er die üblichen Floskeln erfolgreicher Karrieremänner von sich.
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