Luderplatz: Roman (German Edition)
Der Fotograf lag mit dem Rücken zu Viktoria. »Mach den Wecker aus!« Sie schlug ihm auf die Schulter, doch durch die weichen Decken wurde der Hieb offenbar abgedämpft. Mario schlief seelenruhig weiter.
Stöhnend richtete Viktoria sich auf und saß erschöpft auf dem Bettrand. Das Weckzeichen schrillte in ihrem Schraubzwingenkopf. Es hörte sich an wie: »Kurz, lang, kurz, lang.« Davon hatten sie gestern Abend reichlich getrunken. Mario, sie und Kai. Ein Bier, ein Schnaps, lang, kurz – was für eine teuflische Mischung. Viktoria erhob sich, ging langsam, ganz langsam um das Fußende herum und fand Marios Handy. Endlich. Stille.
Mario öffnete die Augen und grinste Viktoria an, die in Unterwäsche vor ihm stand.
Bevor er etwas sagen konnte, raunzte sie ihn an: »Deckendieb.« Dann stapfte sie in das kleine Bad und trank einen halben Liter kaltes Leitungswasser. Die Schraubzwinge löste sich ein wenig, sie konnte sich wieder an alles erinnern. Auch an Kais seltsamen Blick, als er sie entdeckt hatte. Dann war er näher gekommen und hatte sich einfach mit an den Tisch gesetzt. Keine Umarmung, kein Begrüßungsküsschen, nicht einmal ein Händedruck. Nur ein »Hallo« in die Runde und die etwas förmliche Frage, ob er Platz nehmen dürfe.
Erst als sie den dritten Schnaps getrunken hatten, berührte er sie. Ganz zufällig, an ihrer Hand, als sie sich zuprosteten. Und dann noch einmal, als Mario auf die Toilette verschwunden war und sie plötzlich alleine am Tisch saßen. Da strich er mit seinen Fingern eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und sagte: »Jetzt bist du also wieder da.« Sie konnte nur nicken und dämlich grinsen und »Prost« sagen. Schwupps war der Zauber vorbei und das Bier ausgetrunken.
Und das hatte sie jetzt davon. Kopfschmerzen, ein mieses Gefühl im Magen und ein enormes Schlafdefizit. Während sie das Duschwasser warmlaufen ließ, putzte sie ihre Zähne. Wenigstens gegen den widerlichen Geschmack im Mund konnte sie etwas tun. Der Mund, der gestern so viel gelacht, getrunken und geredet hatte – aber nicht geküsst worden war. Dabei hätte sie richtig Appetit gehabt.
Frank Metzger empfing sie direkt an der Institutstür. Er strahlte über das ganze Gesicht, und die Hugh-Grant-Lachfältchen tanzten um seine Augen.
»Guten Morgen, Herr Professor«, rief ihm Viktoria bemüht fröhlich zu, doch ihre Stimme krächzte verräterisch.
»Wenn man es nicht verträgt, sollte man es vielleicht lassen«, neckte Mario sie, der das Trinkgelage vom Abend zuvor wie nichts weggesteckt hatte.
»Wenn es zur Gewohnheit wird, auch«, erwiderte sie halblaut – und lächelte dabei den Rechtsmediziner sanft an.
»Ich habe eine Überraschung für Sie«, begrüßte der Strahlemann die beiden Reporter. »Wir haben eine Leiche – und ich habe extra auf Sie gewartet.«
Viktoria spürte ihren flauen Magen.
»Oder wollen Sie einen Rückzieher machen?«
Entschieden schüttelten Mario und Viktoria den Kopf.
»Eine Brandleiche?«, fragte Viktoria.
Metzger lachte und winkte ab.
»Schade«, sagte sie mit einem Augenzwinkern und dachte: Gott sei Dank. Hätte sie doch bloß etwas Ordentliches gefrühstückt.
»Na, dann folgen Sie mir mal unauffällig.« Schwungvoll schritt der Professor voraus.
Ein langer Flur, eine Tür nach draußen, ein paar Meter durch die frische Luft – Viktoria inhalierte schnell noch ganz tief –, dann die nächste Tür und ein schmaler Flur. Die Tür zum Obduktionssaal stand offen. Viktoria konzentrierte sich auf die weißen Fliesen am Boden und an den Wänden, sie sah eine Waage aus Chrom, einen Seziertisch aus Chrom – leer. Und einen Seziertisch aus Chrom – mit einer jungen Frau darauf.
»Ich habe Besuch mitgebracht, darf ich vorstellen? Viktoria Latell und Mario Siewers vom Berliner Express .« Frank Metzger blickte in Viktorias Richtung. »Dr. Gabriele Jasper und Sektionsgehilfe Michel Vennefrohne, die gerade keine freie Hand haben.«
Viktoria lachte kurz und rau und nickte den Gestalten in ihren grünen Kitteln zu. Gerne hätte sie jetzt gesagt: »Schön, Sie kennengelernt zu haben, wir sehen uns dann später …« Doch sie zwang sich, ihren Blick auf die Tote auf dem Seziertisch zu lenken.
Sie war überrascht, wie gut sie den Anblick ertragen konnte. Als Polizeireporterin hatte sie natürlich schon Leichen gesehen. Doch meistens nur kurz und aus der Ferne. Die Polizei sorgte dafür, dass sie nicht zu nahe kam, und sie selbst fand das völlig in Ordnung. Die Erschlagenen, die
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