Luderplatz: Roman (German Edition)
Erwürgten, die Erstochenen und die Zerbrochenen gaben kein schönes Bild ab. Es war schon schwer zu ertragen, sich vorzustellen, wie ein menschliches Wesen hatte leiden müssen. Es zu sehen war noch schlimmer. Also wechselte sie in diesen Momenten in den Gefühlskälte-Modus. Verdrehte Gliedmaßen, Wunden, Blut, aufgerissene Augen, offen stehende Münder, zerrissene Kleidung, die Klinge eines Messers, zerschlagene Gesichter – all das registrierte sie wie ein Sachbearbeiter. Sie schrieb es auf und versuchte, nichts davon in ihr Herz zu lassen. Meistens gelang es ihr – nicht.
Doch jetzt und hier lag die Tote einfach da. Sauber, nackt, unschuldig. Die Mediziner nahmen gerade die äußere Leichenschau vor. Professor Metzger diktierte alles, was er sah, in ein kleines Aufnahmegerät. Viktoria war noch zwei Meter von der Toten entfernt. Sie sah die blonden Haare, die sich auf dem glänzenden Chromtisch ausbreiteten, und trat näher. Leise und vorsichtig, um die Rechtsmediziner nicht bei ihrer Arbeit zu stören. Gerade als sie in das Gesicht der Toten blicken konnte, hörte sie, wie hinter ihr etwas auf den Boden fiel. Sie erschrak und drehte sich um. Marios neue, teure Kamera lag auf den Fliesen. Er selbst stand kerzengerade dahinter und starrte auf die Leiche.
»Eine schlecht verheilte, etwa fünfzehn Zentimeter lange Narbe auf der linken Brust.« Frank Metzger sprach weiter in sein Diktiergerät, die heruntergefallene Spiegelreflex nahm er scheinbar gar nicht wahr. »Älter als ein Jahr …« Dann beugte er sich noch einmal ganz nah über die Leiche, um die Narbe noch genauer in Augenschein zu nehmen. Mario hob seine geliebte Canon auf und kam näher. Viktoria konzentrierte sich wieder und blickte endlich in das Gesicht der Toten. Danach sah sie Mario an. Er nickte nur. Sie atmete tief aus. Dort lag Nana Oppenkamp.
Der erste Schnitt ging quer über die Schädeldecke von Ohr zu Ohr, danach wurde die Kopfhaut über das Gesicht gelegt. Anschließend folgte der Rundschnitt. Sektionsgehilfe Vennefrohne öffnete Nanas Kopf mit einer Handsäge. Frank Metzger hatte bei ihrem Gespräch am Tag zuvor erwähnt, dass man damit präziser arbeiten könne als mit einer elektrischen Kreissäge. Viktoria musste an einen Halloween-Kürbis denken, bei dem man auch erst einen runden Schnitt machte, um danach den Kürbisdeckel hochnehmen und das bittersüße Fleisch entnehmen zu können.
Mario sah nicht mehr, wie Nana Oppenkamps Gehirn auf den Organtisch gelegt wurde. Er sah auch nicht, wie Professor Metzger einen Schnitt von der Drosselgrube, der Kuhle unterhalb des Halses, ansetzte und bis zu den Schamhaaren führte. Er sah nicht, wie Dr. Gabriele Jasper Herz, Lunge, Magen – alle Organe – entnahm, wog und ebenfalls auf den Organtisch oberhalb des geöffneten Kopfes von Nana Oppenkamp platzierte.
Mario Siewers legte seine Stirn auf das Lenkrad des Fiat Barcetta und rührte sich erst wieder, als Viktoria zwei Stunden später an seine Scheibe klopfte.
»Hast du es ihm gesagt?«
»Sollte ich?« Viktoria stand in der offenen Autotür und schaute Mario von oben herab an. »Mensch. Mario, reiß dich zusammen. Ich habe ihm gesagt, dass du gestern ein bisschen zu viel getrunken hast …«
Mario schaute sie traurig an. »Sehr witzig …«
»Er hat uns zum Frühstück eingeladen.«
»Danke. Mir ist der Appetit vergangen.«
»Das ist mir völlig egal. Mir geht es auch beschissen, und du reißt dich jetzt zusammen! Er will mit uns über den Fall reden.«
»Du meinst, er will mit uns über Nana Oppenkamp reden – mein Gott. Victory! Das da drin war Nana. Wie kann denn das sein? Sie war tot.«
»Ach, und ich dachte, sie lebt noch.« Viktoria konnte sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. »Sie ist erst gestern gestorben! Mario! Hallo! Ich bin dein Alibi. Du hast damit nichts zu tun.«
Er nickte lahm und erhob sich langsam von seinem Autositz.
Viktoria redete weiter. »Aber ich finde den Zufall einfach zu krass, als dass ich jetzt nicht wissen möchte, was da passiert ist. Wie es aussieht, ist sie aber einfach gestorben.«
»Wie – einfach gestorben?«
»Komm jetzt endlich mit. Metzger wird uns schon alles erzählen. Er steht auf mich …« Viktoria grinste breit, und Mario schaute sie müde an.
»Wer tut das nicht, Baby?«
»Du«, sagte sie und zog ihn sanft am Ärmel aus dem Wagen. Und Kai, dachte sie und spürte plötzlich wieder ihren Magen.
Kai Westmark lutschte auf seinem dritten Pfefferminzbonbon und
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