Luderplatz: Roman (German Edition)
einmal mit der Rechtsmedizinergeschichte beginnen, dann hätte ihr Chef sie am Montag auf dem Schreibtisch. Sie wollte ihr Netbook starten, doch der Akku war leer. Wieder einmal. Viktoria fluchte. Natürlich hatte sie ihr Aufladekabel nicht dabei. »Dämliche Kuh«, flüsterte sie und schaute sich in seinem Zimmer um. Auf einem abgewetzten schmalen Tisch entdeckte sie Kais Laptop.
»Bedien dich ruhig.«
Sie fuhr herum. Kai stand vollständig angezogen in der Tür und konnte offensichtlich ihre Gedanken lesen. Dankbar lächelte Viktoria ihn an.
Kai blinzelte ihr nur zu und drehte sich um. »Bis später«, rief er, und schon zog er die Wohnungstür hinter sich zu.
Sie war alleine. Fast alleine.
Unten im Erdgeschoss wohnte Kais Mutter Christel. Viktoria behagte die Vorstellung überhaupt nicht, doch Ka i hatte ihr in der Nacht zuvor versichert, dass seine Mutter sich auf keinen Fall in seine Räume wagen würde. Trotzdem. Viktoria fand es irgendwie seltsam, dass ein erwachsener Mann mit seiner Mutter unter einem Dach wohnte. Klar, sie hatte ihre Wohnung unten und er oben. Klar, das Haus war groß genug. Klar, es war eine praktische Lösung. Immerhin hatte er mit dem Einrichten der Praxis genug zu tun gehabt, außerdem war er alleine. Also ohne Frau und Kinder. Warum sollte er nicht in die leerste-henden neunzig Quadratmeter über seiner Mutter ziehen. Er hatte eine eigene Küche, ein eigenes Bad, ein Wohn-und ein Schlafzimmer und – das Wichtigste – sogar einen eigenen Eingang. Seine Eltern hatten vorausschauend geplant. Damals, als sie das Haus Anfang der Achtzigerjahre gekauft und renoviert hatten. Jederzeit konnte man aus dem Einfamilienhaus zwei einzelne Wohneinheiten machen. Damit man, wenn die Kinder dann groß und ausgezogen waren, vermieten könne. Dass der Mieter jetzt der eigene Sohn war, war zwar nie geplant gewesen, war aber natürlich schön. Für alle.
Außer für Viktoria. Sie hörte ein Klappern oder Scheppern. Es klang so, als räumte Frau Westmark ihre Küchenschränke aus oder ein. Viktorias Magen vibrierte leise mit. Wie peinlich, fand sie. Wie schrecklich peinlich. Hier stand die Liebhaberin des Sohnes, und nur eine Etage tiefer werkelte Mama. Wenn Viktoria jetzt das Scheppern in der Küche so deutlich hören konnte, was hatte Christel Westmark gestern Nacht gehört? Viktoria versuchte, es sich besser nicht vorzustellen.
Sie schaute sich um. In Kais Junggesellenwohnung. Alleine schon das Wort Junggeselle war überholt und altmodisch. Zum Glück sah seine Wohnung nicht so aus.
Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist . Unter dieser Überschrift hatte die Ratgeberseite des Express vor ein paar Wochen verschiedene Wohntypen charakterisiert. Ein Psychologe teilte die Wohnenden in vier Grundcharaktere ein. Viktoria ließ den Blick schweifen, bewertete. Sein Bett war groß genug für zwei, seine Bettwäsche war neutral genug für einen Mann. Dunkelbraune Streifen auf beigefarbenem Grundton – in Ordnung. Die Decke war frisch bezogen, was Viktoria verdächtig fand. Hatte er geahnt, dass sie mit ihm mitkommen würde?
Ansonsten konnte sie nur einen praktischen Kleiderschrank von Ikea aus der Pax-Reihe und einen alten Stuhl ausmachen, auf dem sich ein paar Hosen, Shirts und Hemden, aber zum Glück keine gebrauchten Unterhosen stapelten. Demnach war Kai nicht unbedingt der gemütliche, kuschelige Typ mit viel Gefühl und Herz, sondern eher der pragmatische, anpackende, verlässliche Mensch ohne große Allüren.
Das Bad war ihr nächstes Ziel. Hier war alles okay, das hatte sie schon am Abend zuvor registriert. Doch heute konnte sie es sich nicht verkneifen, in den kleinen Schrank in der Ecke zu schauen. Nein, keine zweite Zahnbürste vorhanden. Stattdessen lagen dort zwei Schachteln mit Kondomen. Lobenswert, dachte Viktoria. Der Mann denkt mit. Trotzdem spürte sie einen kleinen Stich irgendwo in der Nähe ihres Herzens. Sie duschte.
Seit zehn Minuten starrte sie auf das leere Dokument auf dem Bildschirm. Das war normal. Immer wenn Viktoria einen Text schrieb, lief es so ab. Sie starrte auf den Computer, blätterte in den Notizen, schaute in der Gegend herum, trank Cola, und irgendwann stand er dann da, der erste Satz. War der geschafft, floss der Rest wie von selbst aus ihrem Kopf in ihre Finger, auf die Tastatur, in den Computer.
Doch heute floss es nicht. Kai hatte nur Orangensaft im Kühlschrank. Und es kam ihr irgendwie falsch vor, hier an seinem Computer zu sitzen, während
Weitere Kostenlose Bücher