Luderplatz: Roman (German Edition)
zugeklappt und sich von Mario verabschiedet.
»Warte nicht auf mich.«
Der Fotograf hatte ihr nur zugenickt, ohne aufzuschauen. Er würfelte immer noch mit Ludger und den Schützenbrüdern – und das forderte seine ganze Konzentration. Ein kleines Grinsen hatte sie trotzdem in seinem Mundwinkel entdeckt.
Draußen wehte ein frischer Herbstwind. Viktoria schaute in den Himmel. Sie konnte Kai nicht in die Augen sehen. Wilde Wolkenberge zogen am Vollmond vorbei, der irgendwie größer aussah als sonst. Oder fiel er hier im beinahe unbeleuchteten Westbevern einfach mehr auf als in Berlin?
»Hey, sieht ja aus wie beim Werwolf«, scherzte sie, doch Kai lachte nicht.
»Was willst du hier?«, fragte er stattdessen.
»Ich? Wie? Ich arbeite hier.«
»In Westbevern?« Jetzt lachte er doch, aber es klang nicht fröhlich.
»Ich habe es dir doch erzählt. Wir machen eine Reportage über den renommierten Münsteraner Rechtsmediziner Professor Boerne …«
Kai fiel nicht auf die Tatort-Münster-Anspielung rein. Er lachte immer noch nicht.
»Ich schreibe über Professor Metzger und …«
»Und?«
Kai würde nicht lockerlassen, das wusste Viktoria. »Und es gab da noch was mit einer Frau, mit der Mario etwas hatte und die auch in Münster wohnt. Wohnte.« Viktoria zögerte. Sollte sie ihm alles sagen? Die ganze Wahrheit?
»Und?« Kai hatte offensichtlich gemerkt, dass sie noch nicht fertig war.
»Und ich. Ja. Ich fand es eine gar nicht so schlechte Idee, dich vielleicht mal wieder zu sehen. Also. Nur so. Nur mal so. Du, ich, ach, ich weiß nicht.«
Ich weiß nur, dass ich eine Stammlerin bin, dachte Viktoria und versuchte, sich weiterhin auf den Vollmond zu konzentrieren. »Echt gruselig sieht das aus, Kai. Nun schau dir das doch mal an. Nightmare on Westbeverner Street …« Jetzt fing sie auch noch an, dämlich zu kichern.
Kai lachte immer noch nicht. Er schaute sie an, kam näher.
Viktoria starrte auf seine schwarzen Turnschuhe und hörte auf zu kichern. Wieder schoben sich Wolken vor den Mond. Sie hörte das Knistern seiner Jacke, als wäre es direkt in ihrem Ohr, sie hörte seinen Atem, als wäre er direkt in ihrem Ohr, sie spürte seine Lippen – direkt auf ihrem Ohr. Sie drehte sich zu ihm. Ihr Mund, sein Mund. Sie küssten sich.
»Was ist das?« Viktoria zeichnete mit einem Finger die schwarzgrünen Linien auf seiner linken Schulter nach.
»Eine Urlaubssünde.« Kai klang verschlafen.
»Sieht gar nicht so sündig aus, eher interessant.« Viktoria rückte etwas von ihm ab, um das Motiv besser erkennen zu können. »Leonardo da Vinci, oder? Das Bild ist auf meiner Krankenkassenkarte.«
Kai drehte sich auf den Rücken, schaute sie kurz an und nickte.
»Aber wieso ist der Mann nur halb abgebildet?« Viktoria kannte sich alles andere als gut aus, was Kunst anging. Doch dieses Motiv war Alltagskunst, die sogar sie schon einmal gesehen hatte. Ein nackter Mann, umrahmt von einem Kreis. Die Beine und Arme in zwei verschiedenen Positionen gezeichnet. Eine Proportionenstudie, die Symbol für Medizin und Forschung war, deshalb von Krankenkassen auf deren Chipkarten gedruckt und in Postershops zum Sonderrabatt angeboten wurde. Doch auf Kais Rücken fehlte die Hälfte des Bildes, als hätte jemand die Vorlage in der Mitte durchgerissen.
»Ich weiß auch nicht, warum.« Kai gähnte. »Bisschen zu viel Sangria getrunken – und am Ende hat man Arme, Beine und einen halben Kopf auf der Haut.« Dann blickte er auf seine Uhr.
»Oh, Mann. Ich muss noch mal los in die Praxis. Papierkram.« Er stand auf.
Viktoria fühlte sich unbehaglich, machte Anstalten zu gehen.
»Nein, bleib liegen. Keinen Stress. Du kannst gerne noch hierbleiben.«
Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken und schaute ihm nach. Kais nackte Rückseite gefiel ihr. Und das lag nicht nur an der außergewöhnlichen Tätowierung.
Als sie das Wasser seiner Dusche rauschen hörte, griff sie nach ihrem Handy, um zu sehen, ob Kurzmitteilungen eingegangen waren. Mario hatte ihr geschrieben. Wo steckst du? Das Bett ist so leer ohne dich. Darunter hatte er eines dieser albernen Grinsemännchen gesetzt. Viktoria konnte nicht verstehen, warum es kaum noch Mails oder SMS ohne Smiley gab. Als könne man Ironie oder einen Scherz nicht auch so erkennen. Sie tippte schnell ihre Antwort – Ich arbeite – und setzte bewusst kein Männchen aus Doppelpunkt, Gedankenstrich und Klammer zu dahinter. Schließlich würde sie jetzt auch wirklich arbeiten. Sie könnte schon
Weitere Kostenlose Bücher