Luderplatz: Roman (German Edition)
Abend, als er verschwand, hatte er nichts erzählt. Er sei als Erster fertig gewesen mit dem Duschen und habe zum Abschied die linke Hand gehoben, das war ’ s. Tschüss, und keiner sah ihn je wieder.
Ein Mädchen kam mit einem Fahrrad angeradelt, die Bremse quietschte. Sie stellte es mit Schwung in den Ständer und kettete es fest. Ein paar andere kamen kichernd über den Bürgersteig. Volleyball oder Badminton? Viktoria tippte auf Volleyball. Die Teenager waren groß, die meisten trugen enge Jeans und lange Haare. Ihr Trainer, mindestens eins neunzig, begrüßte sie und schloss die Tür auf. Oder sie spielen Basketball, dachte Viktoria. So wie Florian. Sie schaute auf die Uhr. Es war zwei Minuten nach acht. Auf dem Zettel, den Catchi aus der Schatzkiste genommen hatte, stand 18.03 Uhr. Warum hatte jemand diese Uhrzeit auf einen Zettel geschrieben? Was war um 18.03 Uhr passiert? Was sollte der Hinweis?
Viktoria war alle Fakten noch einmal durchgegangen, sie hatte alle Zeiten im Kopf. Florian hatte die Umkleidekabine um kurz vor 18 Uhr verlassen. Sein Heimweg war höchstens siebenhundert Meter lang. Einmal rechts, einmal links, eine Fußgängerampel, das war ’ s. Als seine Eltern den Weg später abliefen, um ihren Jungen zu suchen, fanden sie einen seiner Handschuhe neben dem orangefarbenen Mülleimer, direkt an der Ampel. Er war ihm wahrscheinlich aus seiner Jackentasche gefallen. Vielleicht, als er gewaltsam in ein Auto gezerrt wurde, vielleicht war er auch im Kampf von seiner Hand gerissen worden. Fand dieser Kampf um 18.03 Uhr statt? Man fand kein brauchbares DNA -Material an dem wasserabweisenden Stoff, es gab keine Zeugen. Oder hatte doch jemand gesehen, was passiert war? Hatte dieser Jemand ihr den Hinweis ins Schatzkästchen gelegt?
Viktoria stand vor der Turnhalle, aus der jetzt Licht nach draußen schien. Sie drehte sich um, die Halle im Rücken. Florian war nach rechts gegangen. Sie blickte auf den Bürgersteig, übersah die Hundehaufen, die sie nicht mehr sehen wollte, weil sie ihr auf die Nerven gingen, und stellte sich vor, wie Florian über den salzigen Schneematsch ging, der in jener kalten Nacht dort lag.
Ein Mädchen , das sich verspätet hatte, kam angelaufen, die Sporttasche schlug ihm gegen die Hüften, es atmete schwer. Dann kam der Bus.
Viktoria schaute auf die Uhr. 20.03 Uhr. Der Bus hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Haltestelle. Die Türen öffneten sich mit einem Seufzer, und Viktoria brüllte: »Halt! Warten Sie. WARTEN SIE !«
Ohne nachzudenken, stürmte sie über die Straße und umrundete das Fahrzeug von vorn. Der Fahrer schüttelte nur den Kopf. Doch er wartete. Viktoria sprang auf die untere Stufe und kramte ihr Portemonnaie heraus. »Fährt diese Linie immer um drei nach?« Der Fahrer nickte. »Det macht drei Euro …«
Viktoria kramte in ihrem Münzfach und ließ das Geld auf den Metallkasten neben ihm fallen.
»Auch um 18.03 Uhr?« Er nickte wieder und zog das Ticket aus dem Kasten.
»Auch dieselbe Strecke wie jetzt?« Sie nahm das Ticket.
»Wat ’ n sonst? Ick denk mir doch nicht jeden Tach ’ nen neuen Weg aus.«
Viktoria ließ sich gleich auf dem ersten Sitz hinter dem Fahrer nieder und schaute aus dem Fenster. Auf welchem Platz saß Florian?, dachte sie, als die Türen sich schlossen und der Bus losrollte. Wohin ist er gefahren? Und: Wieso ist er damals nach dem Training nicht nach Hause gegangen?
Er hatte richtiggelegen. Es war das einzige nicht renovierte und schön herausgeputzte Haus in der Weserstraße. Und natürlich waren die Klingelschilder mit einem Tag eines unbegabten Graffiti-Künstlers überschmiert, und im Flur unten stand ein Einkaufswagen. Nanas Freundin wartete an der Tür und fummelte an ihren Rastalocken herum. Es schien sie nicht sonderlich zu überraschen, dass ein wildfremder Fotograf sie angerufen hatte, um sie nach Nana Oppenkamp zu befragen. Sie bat ihn mit tonloser Stimme herein.
Genauso hatte sie schon am Telefon geklungen. Und obwohl es unmöglich war, hätte Mario schwören können, dass der Duft von Räucherstäbchen durch den Telefonhörer gekrochen kam, als er mit ihr gesprochen hatte. Die Nummer hatte er in Nanas Unterlagen gefunden. Wie sich herausstellte, war das Rastamädchen eine ehemalige Klassenkameradin aus Handorf, die ein paar Jahre nach dem Abi nach Berlin gezogen war. Kontakt mit Nana hatte sie eigentlich nicht mehr, obwohl sie früher echt » ’ n gutes Ding laufen hatten«. Sie hatten denselben
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