Luderplatz: Roman (German Edition)
liegen die Sachen von Nana noch bei euch in der Redaktion?«
Manuel nickte abwesend, er sah sehr betroffen aus. »Sie war doch so jung.«
»Ja, das stimmt. Sehr jung …« Mario hielt seinen Blick gesenkt. »Ihre Freundin hat mich gebeten, Nanas Sachen abzuholen. Die Eltern hätten gerne alles, was an ihre Tochter erinnert.«
»Ja, klar. Woran ist sie denn gestorben?«
»Diabetes, oder so.«
Manuel führte Mario zu Nanas Schreibtisch. In einer Stapelbox lagen ihre Unterlagen. Jede Menge Computerausdrucke von Artikeln, handgeschriebene Notizen. Mario nahm sie an sich. Der Computer war angeschaltet. Als er gerade gehen wollte, kam ein junger Mann, wahrscheinlich der neue Praktikant, und wollte den Rechner gerade herunterfahren.
»Warte mal.« Mario handelte instinktiv.
»Bist du auch Praktikant?«
Der junge Typ mit den gegelten Haaren nickte.
»Habt ihr ein gemeinsames Praktikanten-Passwort?«
Er nickte wieder.
Mario nahm die Maus, ohne danach zu fragen, und ging auf den Internetbutton. Er checkte, was sich Nana Oppenkamp während ihres Praktikums angeschaut hatte. Und staunte nicht schlecht.
»Victory, die hat dich regelrecht gestalkt.«
Viktoria starrte auf die Ausdrucke, die vor ihr lagen. Es stimmte. Hier lagen beinahe alle Artikel, die sie jemals geschrieben hatte. Außerdem fand sie handgeschriebene Notizen, in denen ihre Telefonnummer, ihre Handynummer, ja sogar ihre E-Mail-Adresse notiert waren.
»Gruselig, oder?« Mario wippte auf und ab. Er hatte seine reinste Freude an seinen aufregenden Ergebnissen.
Viktoria war geschockt. »Sehr gruselig.« Sie blätterte durch die Seiten. Ihre Kommentare, ihre Reportagen, ihre Interviews – über jedem Text stand ihr Name oder ihr Kürzel VY , wegen Victory. Sie zog ein Blatt heraus. Wo ist Florian? , stand in dicken Lettern darüber. Es war einer der ersten Texte über den vermissten Jungen gewesen. Damals hatten alle noch Hoffnung, dachte Viktoria, überflog die Buchstaben, die Worte und blieb hängen.
Der Artikel beschrieb genau, wer wann wo Florian zuletzt gesehen hatte. Um 16.00 Uhr die Nachbarin im Hausflur in der Maximilianstraße, um 16.30 Uhr der Kioskbesitzer im Grundweg, um 18.00 Uhr in der Kabine der Nordturnhalle in der Ernst-August-Straße die Mitspieler der Basketballmannschaft. Ernst-August-Straße. Eine Straße mit Namen. Mit Vor-und Zunamen.
Viktoria wühlte hektisch in ihrer Tasche und fand die Karte wider Erwarten sofort. Sie war verknickt, dreckig, aber da. Sie wählte die Nummer, hörte das Freizeichen, dann das Knacken in der Leitung.
»Grone!«
»Hallo, Catchi. Hier ist Viktoria. Aus Berlin.«
»Ah … Ja, klar, die Pumpenkönigin. Wie ist die Lage?«
»Geht so. Sag mal. Kennst du die Ernst-August-Straße?«
»Häh? Ne, so eine Adresse kenne ich nicht …« Viktoria sackte zusammen.
»Also hier in Westbevern nicht. Aber, warte mal …«
Viktoria hielt die Luft an.
»Du hast mich doch nach diesem Straßennamen auf dem Zettel im Schatzkästchen gefragt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Straßenname war, der da stand.«
»Nur ziemlich sicher?« Viktoria richtete sich wieder auf.
»Ganz sicher. Auf dem gelben Post-it, das an der BVG -Karte klebte, stand 18.03 Uhr und Ernst-August-Straße. Doch. Ja.«
Viktoria hielt den Hörer noch in der Hand. Langsam drehte sie sich zu Mario um. »Ich glaube, wir haben einen echten Hinweis auf Florian.«
Der Fotograf schaute sie verständnislos an. »Und was hat das mit Nana Oppenkamp zu tun und damit, dass sie alles von dir und über dich ausgedruckt hat?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
10. Kapitel
Die Ernst-August-Straße in Schöneberg war unauffällig, unbekannt und nicht besonders lang. Als Viktoria vor der grauen Turnhalle mit den bunten Graffiti stand, hätte sie sich am liebsten wieder in ihr Auto gesetzt und wäre davongefahren. Weg von den Erinnerungen an die traurige Geschichte von Florian. Doch sie blieb. Wie hatte die Nonne auf dem Ostbeveraner Gymnasium gesagt? Sie musste sich dem stellen.
Also ging sie entschlossen auf das Gebäude zu. Das Licht einer Straßenlaterne spiegelte sich im zerkratzen Glas der Eingangstür. Sie blieb stehen und schaute sich um. Hier hatten sie ihn zuletzt gesehen. Beim Training. Florian hätte ganz normal gewirkt, so wie immer, sagten seine Freunde.
Er war ein guter Basketballspieler, kein Überflieger. Er war beliebt und ein eher ruhiger Junge. Redete nur das Nötigste, behielt das meiste für sich. Auch an jenem
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