Luderplatz: Roman (German Edition)
falteten die Umzugskartons zu großen Kisten und legten alles hinein. Alles. Mehr als fünf Jahre lang hatte die Welt stillgestanden. Jetzt drehte sie sich wieder. Isabella und ihre Eltern hatten das Radio angestellt und hörten Musik. Fröhliche Musik. Auch auf der Beerdigung hatten sie die allzu düsteren Kirchenlieder vermieden. Sie wollten sich von ihrem Sohn so verabschieden, wie sie es jeden Tag getan hatten, als er noch lebte. Mit einem Lächeln. Mit einem fröhlichen Winken.
Niklas lag auf dem Bauch und beobachtete die Erwachsenen beim Ausräumen. Er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, und als es ihm gelang, lachte seine Großmutter. Oma sah lustig aus, sie trug einen Overall und hielt in der Hand eine Farbrolle. Florians Zimmer sollte zu Niklas’ Gästezimmer werden. Die Welt drehte sich weiter. Drehte sich, drehte sich, so dass Florians Mutter beinahe schwindelig wurde. Sie setzte sich auf das Bett ihres Sohnes. Wie oft hatte sie hier gelegen, um ihm nahe zu sein. Sie hatte ins Kissen geweint und versucht, ihn sich vorzustellen, ihren verlorenen Sohn. Schlafend. Beschützt. Friedlich.
Jetzt endlich schlief er. Beschützt. Friedlich. Für immer.
Niklas schaute seine Oma ernst an. Dann lief plötzlich sein Gesicht rot an. Seine Augen wurden schmal, dann ertönte ein lauter Pups. Barbara Jahnke grinste, nahm den Kleinen auf den Arm und rief ihre Tochter.
»Isabella, einmal Windeln bitte!« Die Welt drehte sich weiter. Sie drehte sich und drehte sich. Das Zimmer würde hellblau werden, wie der Himmel über Berlin, als sie ihn endlich gefunden hatten. Ihren Jungen, der beim Entenfüttern ausgerutscht war, der jetzt schlief.
Joggen nach dem Baden war zwar absurd, aber es war herrlich. Viktoria war sich vorgekommen wie Aschenputtel, als Kai ihr die alten Laufschuhe seiner Schwester aus dem Keller geholt hatte und vor ihr auf die Knie gegangen war . Sie passten.
Seine kurzen Boxershorts schlackerten zwar abenteuerlich, aber sein Sport-Shirt passte beinahe. Sie sah nicht gut aus. Aber sie fühlte sich gut. Kai wohnte direkt am Ortsausgang von Westbevern. Sie musste nur aus der Tür treten und war schon auf der herrlichsten Joggingstrecke. Über einen asphaltierten Feldweg ging es an zwei, drei Bauernhöfen vorbei Richtung Haus Langen. Viktoria atmete gleichmäßig und dachte an das Metallkästchen, das dort versteckt gelegen hatte. Mit dem Hinweis auf Florian und einem Plastikdaumen darin, der das Teenagerpärchen so höllisch erschreckt hatte.
Es war warm, und die Mücken schwebten schon über dem Wasser der Bever, das gemächlich in Richtung der alten Wassermühle floss. Sie bog rechts ab. Der Weg wurde zum Pfad, links sah sie einen großen knorrigen Baum mit gestutzten Ästen und wenigen Blättern. Das musste die Tausendjährige Eiche sein. Wie lange sie wohl schon tausend Jahre alt war, dachte Viktoria. Ob sie irgendwann einmal auch die Zweitausendjährige Eiche sein würde? Sie würde es nicht erfahren. Sie würde vorher sterben, so viel stand fest.
Kai hatte ihr noch aus dem Fenster nachgeschaut. Die langen Beine in seiner schlabberigen Hose, sie sah albern aus – er musste grinsen. Mit einer Hand fegte er die Croissantkrümel vom Tisch, mit der anderen fing er sie auf und warf sie in den Mülleimer. Er spülte die Gläser, die Teller, die Tassen. Dann machte er sein Bett. Er hob Viktorias hellblaue Lederjacke auf und entdeckte die schwarzen Ölflecken. Ihr Handy war aus ihrer Tasc he gerutscht, es lag auf dem Boden. Er bückte sich, nahm es und wunderte sich darüber, dass sie mit so einem primitiven Knochen telefonierte. Er hatte ein schickes Smartphone erwartet. Das Briefsymbol leuchtete auf dem kleinen Display. Jemand hatte Viktoria eine SMS geschickt.
Der Weg wurde noch schmaler und führte rechts in einen kleinen Wald. Der Boden war weich, es ging auf-und abwärts, ein umgefallener Baumstamm versperrte den Weg. Stundenlang hätte sie so weiterlaufen können, der Pfad war abwechslungsreich, verschlungen, weich gepolstert – doch leider viel zu kurz. Er mündete in einen weiteren sandigen Feldweg, auf dem ein Wagen parkte. Ein Mann in grüner Kleidung und mit geschultertem Gewehr stieg langsam aus. Wann ist eigentlich Jagdsaison?, dachte Viktoria.
Sie drosselte das Tempo. Der Mann in der Jägerkluft hob das Gewehr an seine Schulter, er zielte. Sie blieb stehen. Der Schuss war entsetzlich laut.
Als sie zu Boden ging, spürte sie nichts. Keinen Schmerz. Nur das Pfeifen in ihren Ohren
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