Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
ein Unsinn, dachte er. Er steckte den Band zurück.
Er ging zum Schreibtisch und öffnete nacheinander die Schubladen. Brigitte war nicht ordentlich gewesen, in den Schubladen lag alles durcheinander, Kugelschreiber, Briefe, Broschüren, Flugblätter, Eintrittskarten, Büroklammern. Er schob die Dinge hin und her, aber er entdeckte nichts, das ihn interessierte. Ein blödes Gefühl ergriff ihn. Um sich abzulenken, schnüffelte er in Brigittes Sachen herum, er fand sich unanständig. Stachelmann schloss die Schubladen, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und drehte sich langsam, während seine Augen umherschweiften. Ein Plakat für eine Veranstaltung im Audimax gegen Studiengebühren. Schwarze Vorhänge vor dem Fenster, von draußen schimmerte das Licht einer Straßenlaterne durch den Schlitz.
Stachelmann mühte sich, seine Gedanken zu sammeln. Wenn sie morgen das Internetcafé am Grindelhof aufsuchten, was konnten sie finden? Dort herrschte gewiss ein Kommen und Gehen, und wer achtete schon auf einen Typen, der vielleicht älter war als ein Student, vielleicht aber auch nicht, und der schießen konnte und der eine Frau abschlachtete, wie man ein Tier nicht abschlachten würde. Und der so schlau war, keine Spuren zu hinterlassen. Stachelmann erinnerte sich an Tauts Gesichtsausdruck, als er den PC hinaustragen ließ. So sieht einer aus, der keine Hoffnung hat. Die Wahrheit ist, es gibt nicht den Hauch einer Spur. Und auch er und Georgie tappten im Dunkeln.
Und Kraft? Der hatte ein Alibi. Gut, da hatten also Huren und Zuhälter für ihn ausgesagt. Er hatte Taut gar nicht genau gefragt. Und wenn Kraft einen Zwillingsbruder hatte, der genauso aussah? Das gab es doch. Er wurde unruhig, das war doch eine Möglichkeit, besser als keine allemal. Er schaute auf die Uhr. Es war nach drei Uhr am Morgen, und Taut schlief. Aber fast hätte Stachelmann dessen Privatnummer gewählt, doch dann beruhigte er sich. Dieser Kraft war der Einzige, dem Stachelmann die Tat zutraute. Und wenn dessen Alibi platzte, dann hatte er doch richtig gelegen, und das Feuerwehrtheater wäre nicht umsonst gewesen.
Die Schmerzen waren höllisch. Sie weckten ihn auf und lähmten ihn. Vorsichtig richtete er sich auf im Bett. Dann drehte er seinen Körper, bis die Füße den Boden berührten. Ihm war, als knarrten die Knie. Einen Ölwechsel bitte, dachte er. Er stützte sich mit den Händen auf die Matratze und stand auf. Brigittes Bett taugte nichts, jedenfalls nicht für Rheumatiker. Er stolzierte mit steifen Gliedern umher, zog die Vorhänge auf, grauer Himmel, Regen, die Büsche im Vorgarten wankten im Wind.
Er fand sein Handy auf Brigittes Schreibtisch. Es war fast sieben Uhr am Morgen, Taut würde kaum schon im Präsidium sein. Er wählte die Privatnummer, und es dauerte, bis der Kriminalrat sich unwirsch meldete. »Ja?«
»Stachelmann. Haben Sie die Möglichkeit bedacht, dass Kraft einen Zwillingsbruder hat oder jemanden kennt, der ihm ähnlich sieht?«
Taut überlegte einige Sekunden. »Auf so eine Idee kommen nur Leute wie Sie.«
Stachelmann wollte fragen, was Taut damit meinte, aber dann sagte er: »Ich kenne niemanden, dem ich diesen Mord mehr zutrauen würde als Kraft. Und so kam ich auf die Idee, dass der sein Alibi konstruiert hat, weil er wusste, er könnte danach gefragt werden.«
»Wissen Sie, was das Schlimmste ist, das einem Kriminalisten passieren kann?«
»Noch nicht.«
»Ein Massenmord, der steht an erster Stelle. An zweiter stehen Historiker, die Detektiv spielen.«
Stachelmann war nicht beleidigt, er grinste. »Kennen Sie das Schlimmste, das einem Historiker passieren kann?«
Taut antwortete nicht, Stachelmann hörte seinen Atem. »Das Schlimmste ist der Zeitzeuge, das Zweitschlimmste sind Polizisten ohne Phantasie, denen man hin und wieder auf die Sprünge helfen muss.«
»Gut, gut«, sagte Taut. »Eins zu eins. Wir müssen jedem Hinweis nachgehen, also werde ich auch prüfen, ob Kraft das doppelte Lottchen ist.«
»Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte Stachelmann.
Taut schnaubte und legte auf.
Stachelmann zog sich an, ging ins Bad, spülte mit einem Mundwasser, das er fand, benutzte Brigittes Haarbürste und wusch sich mit den Händen das Gesicht. In der Küche fand er Toastbrot. Er steckte eine Scheibe in den Toaster, holte Margarine und Marmelade aus dem Kühlschrank, setzte einen Kessel Wasser auf, fand einen Tee ohne Beschriftung, verzog das Gesicht, weil er ahnte, wie das Zeug schmecken würde, und
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