Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Häftlingen Bäume fällen, Baracken, Wachtürme, Werkstätten, Kasernen, die SS-Führersiedlung und das Eingangsgebäude bauen, Zäune ziehen und sich von morgens bis abends der Quälerei des Wachpersonals aussetzen müssen.
Stachelmann stellte den Wagen neben einem Bus ab. Er betrat das Lager durch das Tor mit dem eingelassenen Wahlspruch »Jedem das Seine«. Hinter dem Tor erstreckte sich das KZ-Gelände, wo früher die Baracken gestanden hatten, von denen nur die Fundamente geblieben waren. Eine Baracke wurde später als Muster aufgebaut. Stachelmann ging langsam über das Gelände und versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein mochte für Rohrschmidt, in seiner dünnen Häftlingskleidung, die Füße in Holzpantinen, hier oben stundenlang zu stehen beim Appell. Die Häftlinge, die meisten unterernährt, müssen unerträglich gefroren haben.
Er näherte sich der Effektenkammer, einem Gebäude vom Zuschnitt eines großen Speichers. Auf dem Weg vom Eingangsgebäude dorthin kam man am Krematorium vorbei. Er erinnerte sich an die seltsame Abkürzung »Krema« in einem der Diskussionsbeiträge im Internetforum. Ob sie dieses Krematorium gemeint hatten, den Ort, wo Thälmann ermordet worden war? Ihm schien, dass sich Frankie, Halil und Genossen nirgendwo mehr treffen würden. Sie hatten zu viel angerichtet, unabsichtlich, aber unabweislich. Vielleicht hätte es die Schüsse im Von-Melle-Park nicht gegeben und würde Brigitte noch leben, wenn diese Hysteriker nicht diese Kampagne angezettelt hätten. Sie hätten Brigitte nicht unterstützen dürfen, sondern sie bremsen müssen.
Das Innere des Krematoriums war gut erhalten. Man sah die Öfen, als wären sie vor kurzem noch verwendet worden. Damals herrschte hier Hochbetrieb. Ihn schauderte, und er verließ das Krematorium nach wenigen Minuten.
Weiter zur Effektenkammer. Hier befand sich die Ausstellung. Zu entdecken waren darin auch Exponate, die Häftlingshandwerker angefertigt haben. Die SS nutzte die Fertigkeiten ihrer Gefangenen. Tischler zum Beispiel stellten nicht nur Möbel und Kinderspielzeug fürs Wachpersonal her, sondern auch die Instrumente, mit denen die Wärter die Häftlinge quälten.
Beeindruckend ein Knüppel und der Bock: Unten wurden die Füße fixiert, dann wurde der Delinquent mit dem Oberkörper auf einer Ablage festgeschnallt. SS-Männer versetzten ihm mit stahlgefüllten Ochsenziemern Schläge aufs nackte Gesäß. Langsam, damit auch jeder Schlag wirkte. Häftlinge berichteten, die Wärter hätten oft während der Misshandlung die Zahl der Schläge erhöht über das vorher festgesetzte Maß hinaus.
Der Knüppel war ein Kunstwerk. Er war aus einem Stück Holz geschnitzt, der Griff geriffelt, damit er nicht rutschte in der Hand. Eine Verdickung am Griffende erlaubte dem Wärter härteste Schläge, ohne dass ihm der Knüppel entglitt. Am Schlagende lag der Schwerpunkt, da verdickte sich der Stock. Das Schlagwerkzeug war kurz und handlich, eine Lederschlaufe am Griff ermöglichte es dem Träger, es baumeln zu lassen in der Hand. Stachelmann konnte sich vorstellen, wie ein SS-Mann übers Gelände schlenderte und lässig mit dem Knüppel spielte.
Unter den Ausstellungsstücken entdeckte Stachelmann eine Rechnung an das Konzentrationslager Weimar-Buchenwald, ausgestellt vom Friedhofsamt der Reichsmessestadt Leipzig, Absender: der Oberbürgermeister. Der berechnete dem Lager für die Einäscherung von vier Häftlingen 196 Reichsmark, pro Leiche »je 49,- RM einschließl. Beisetzung«. Datum: 26. Januar 1945. Die vier Menschen, davon einer ohne Häftlingsnummer, deshalb namentlich erwähnt: Kurt Jakobowicz, hatten in einem der unzähligen Außenlager des Riesen-KZs den Tod gefunden, ihre Leichen wurden praktischerweise nicht nach Buchenwald zurückgebracht, sondern ins näher gelegene Leipzig.
In der Ausstellung stand auch eine Holzschubkarre. Sie wurde im Steinbruch verwendet, wohin die SS vorzugsweise jene Häftlinge schickte, die sie tot sehen wollte. Für Menschen, die körperliche Arbeit gewohnt waren, war der Steinbruch die Hölle. Für Menschen, die körperliche Arbeit nicht gewohnt waren, war er oft der Tod. Und wenn einen die Schinderei nicht umbrachte, prügelte einem der Kapo das Leben aus dem Leib. Oder trieb einen in die Postenkette, damit er auf der Flucht erschossen wurde. Dann musste das Steinbruchkommando die Leiche tragen, wenn es zurück ins Lager ging. Mit einem Lied auf den Lippen.
Die meisten dieser Mörder waren
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