Luegen auf Albanisch
selben Ort ein. Lula musste einen anderen Job finden, bevor sie sich in Mister Stanley verwandelte.
Als am nächsten Morgen Savitras E-Mail eintraf, war Lula erstaunt. »Hi, Lula!«, begann die Nachricht. Savitra schickte Lula einen Link zu der Seite mit Informationen über Gerichtsdolmetscher in New York und New Jersey. Das war kein richtiger Job; man arbeitete nur, wenn man gebraucht wurde. Lula begegnete zum ersten Mal der Bezeichnung selbstständiger Unternehmer . Was für eine ansprechende Bezeichnung, mit ihrer doppelten Zuordnung zu Freiheit und Unternehmen, wenngleich sie bei Unternehmer an Alvo denken musste, was sie zu vermeiden suchte. Um zugelassen oder halb zugelassen oder bedingt zugelassen zu werden, musste man nur nachweisen, dass man beide Sprachen fließend beherrschte und Englisch sprechen und lesen konnte, vor allem das in amerikanischen Gerichten gebräuchliche Englisch. In New York gab es eine mündliche Prüfung. Man musste sich einen Film anschauen, in dem Schauspieler Zeugen aus dem eigenen Heimatland spielten, und musste dann dolmetschen, um zu zeigen, dass man all die technischen Begriffe wie Verständigung im Strafverfahren und Kaution und Klagepartei beherrschte, die Lula aus Krimiserien im Fernsehen gelernt hatte.
Sie wunderte sich über den Vorschlag auf der Website, Bewerber sollten Gerichtsverhandlungen besuchen, um sich mit den Abläufen vertraut zu machen. In Albanien würde niemand auch nur in die Nähe eines Gerichts gehen, es sei denn, er war in Handschellen oder hatte auf Rückgabe seines Grundstücks geklagt. Hier waren Prozesse der Öffentlichkeit zugänglich, bis auf die vor dem Familiengericht. Lula bat Mister Stanley, Don zu erzählen, sie sei neugierig darauf, wie ein demokratisches Justizsystem funktioniere, und Mister Stanley berichtete, Don sei entzückt über Lulas Interesse. Seiner Meinung nach würden ihr die Gerichte in Lower Manhattan mehr zu bieten haben als die in Newark. Mister Stanley befürwortete Lulas Projekt ebenfalls, hoffte aber, sie sei trotzdem wieder zu Hause, wenn Zeke aus der Schule kam.
»Das verspreche ich«, sagte Lula.
13
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Lula wartete geduldig darauf, ihre Handtasche auf das Förderband zu legen und durch den Metalldetektor zu gehen. Es war entspannend, zusammen mit ihren Mitmenschen vorwärtszuschlurfen, auch den missmutigen, die gar nicht hier sein wollten. Den Wachleuten war es egal, wie lästig die angehenden Geschworenen es fanden. Wichtig war ihnen nur, ob die Leute mit ihren Handys fotografieren konnten. Lulas Handy konnte das nicht, was sie als Beweis dafür angab – regelrecht damit prahlte –, wie unschuldig ihre Absichten waren. Sie bildete sich ein, der Blick, den sie mit dem Wachmann wechselte, drücke etwas Persönlicheres aus als die Bewertung, wie hoch sie als terroristische Bedrohung einzuschätzen sei. Die Moleküle in der überheizten Luft schienen vor Aufregung zu vibrieren, so sehr freute sich Lula über die faszinierende Alternative, die sich ihr hier bot und die allemal besser war, als zuzuschauen, wie das zaghafte Winterlicht mit einem Kurzauftritt Mister Stanleys Rasen beehrte.
Aus den Unterhaltungen im Fahrstuhl schloss sie, wie geschockt ihre Mitfahrer wären, wenn sie erführen, dass sie freiwillig etwas tat, das sie zu vermeiden suchten. Als die Menge in die eine Richtung bog, wandte sie sich in die andere und fand sich in einem Raum wieder, der dem von Zekes College-Tee nicht unähnlich war. Auf den Bänken war viel Platz. Niemand nahm von Lula Notiz, als sie sich setzte.
Der kleine graue Kopf der Richterin wirkte wie eine rauchige Christbaumkugel, die auf dem Rand ihrer Richterbank balancierte, während sie die Geschworenen über den Ernst ihrer Pflichten belehrte und darüber, wie die Tätigkeit, die man sie auszuüben gebeten hatte, die Schönheit der Demokratie und des Gerichtswesens widerspiegelte. Sie versicherte ihnen, wie dankbar ihr Land für die Opfer sei, die sie brachten. Lula bemühte sich, nicht zynisch zu werden, nicht daran zu denken, dass die Richterin nur versuchte, alle trotz der versäumten Arbeit bei Laune zu halten. Als die Richterin die Geschworenen aufforderte, während der Dauer des Prozesses auf sich zu achten, in der Mittagspause – in der sie nicht über den Fall diskutieren durften – vorsichtig beim Überqueren der Straße zu sein, drohte sie ihnen damit nicht den sicheren Tod unter den Rädern des heranrasenden Mercedes an, der sie überfahren würde, sollten sie auch
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