Luegen auf Albanisch
könnten. Der Richter seufzte und teilte dem Verteidiger mit, es sei ihm egal, wie kurz der Anwalt vor der Pensionierung stehe, er habe gute Lust, ihn vorzuladen und ihn statt seines Mandanten ins Gefängnis zu stecken, weil er einen Eid geschworen habe, das Rechtssystem zu achten, ob er nun damit einverstanden sei oder nicht und ungeachtet der Frustration, die sich ergeben müsse, wenn man als Pflichtverteidiger kurz vor der Pensionierung stehe. So, wie der Richter »Pflichtverteidiger« aussprach, klang es wie ein Synonym für »Verlierer« und brachte Lula auf den Gedanken, die beiden Männer hätten eine Geschichte, die dieser Verhandlung vorausging. Als Lula den Gerichtssaal verließ, schimpfte der Richter immer noch auf den Verteidiger.
Am Dienstag sah sich Lula den Prozess einer Verbraucherschutzgruppe gegen einen chinesischen Hersteller toxinhaltiger Babyfläschchen an. Theoretisch hätte es interessant sein müssen – die gesundheitsbewussten Vorstellungen eines Landes gegen die rücksichtslosen Produktionsziele eines anderen. Aber an der Sache schienen keine echten Menschen beteiligt zu sein; weder war einer der Anwälte Chinese, noch gab es ein echtes Baby, das durch die Fläschchen Schaden genommen hatte. Also suchte Lula sich einen Gerichtssaal, in dem gegen einen Arzt verhandelt wurde, der die Magenbypassoperation einer Frau verhunzt haben sollte. Lula war fasziniert von der Schilderung der Frau, was Nahrung auf dem Weg von ihrem Mund zu dem unter ihrem papageiengrünen Kleid verborgenen Beutel machte, doch die Überlegung, was sie tun würde, wenn der Angeklagte Albaner wäre und sie die englischen Wörter für all die Teile des Verdauungssystems finden müsste, deprimierte sie.
Am nächsten Morgen veranlassten die Eisblumen am Fenster Lula beinahe dazu, daheim zu bleiben. Aber sie zog ihre wärmsten Sachen an, setzte eine frisurzerstörende Wollmütze auf und lieferte sich den drei Bussen und dem beißenden Wind aus. Als sie aus der Kälte hereinkam, erschien ihr die Eingangshalle des Gerichtsgebäudes besonders dampfig und pulsierend. Die Aktenkoffer und Handtaschen ruckelten über die Förderbänder wie Besucher eines Vergnügungsparks, die darauf warteten, dass die Karussellfahrt begann. Selbst die Metalldetektoren sahen so harmlos aus wie Gartenspaliere, und die diensthabenden Wachleute lächelten.
Lula fühlte sich bereits, als ginge sie zu einer Arbeit, in der sie gut war und die sie mochte. Eine goldene Aura umgab die in den Fahrstuhl gequetschten Passagiere, und in diesem Glanz staunte sie über die besondere Schönheit jedes Einzelnen. Was für eine großartige Vielfalt diese amerikanischen Gesichter hatten! An diesem Morgen, im selben Moment, als sie darüber nachdachte, ob die Wärme ihrer Mütze (die sie abnahm, um sich mit den Fingern durch das platt gedrückte Haar zu fahren) ihre verletzte Eitelkeit aufwog, waren diese Leute in ihren Wohnungen gewesen, hatten vielleicht vor dem Spiegel gestanden und all die winzigen Entscheidungen und Veränderungen vorgenommen, die bestimmten, welches Gesicht sie der Welt zeigen wollten. Wie wundersam das alles war, wie verwirrend in seiner Unermesslichkeit und Seltsamkeit! Wodurch war dieses Gefühl von Verheißung und sogar Freude in ihr ausgelöst worden? Musste es einen Grund dafür geben? Oder konnte man eines Tages aufwachen und die Welt mit anderen Augen sehen, ohne dass sich damit ein Gehirntumor oder der Ausbruch einer Geisteskrankheit ankündigte?
Lula schlenderte in einen Gerichtssaal, in dem eine Frau gegen den Besitzer eines Lebensmittelladens prozessierte, weil sie auf einem zerbrochenen Gurkenglas ausgerutscht war und sich das Bein verletzt hatte. Die Frau übertrieb ihr Humpeln mit einem so aggressiven Gehabe, dass es aussah, als wolle sie den Geschworenen mit ihrer Krücke drohen – ein Beweis für schlechte Beratung durch ihren Anwalt oder überhaupt keine Beratung.
Warum sollte sich Lula nur aufs Dolmetschen beschränken? Sie war intelligent, sie war eine gute Studentin gewesen, sie könnte Richterin werden! Don und Mister Stanley würden ihr helfen, und eines Tages würde sie es ihnen vergelten, nicht nur finanziell, sondern auf eine Weise, die mehr wert sein würde als Geld.
Der Anwalt des Ladenbesitzers fragte, warum die Klägerin nicht einen einzigen medizinischen Sachverständigen beigebracht habe, was eine gute Frage zu sein schien, bis der Anwalt der Klägerin seinen Kollegen fragte, ob er sich bewusst sei, dass
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