Luegen auf Albanisch
jemanden um sich zu haben, der ihm beim Wassertrinken zuschaute. Wie würde Lula den Absprung schaffen? Häusliche Bequemlichkeit war verführerisch.
Seltsamerweise hatte die Waffe etwas Beruhigendes. Aber war das wirklich so seltsam? Vielen anderen ging es genauso. Zum Beispiel ihrem Vater. Lula redete sich ein, die drei Jungs würden zurückkommen, wenn auch nur, um den Revolver abzuholen. Handfeuerwaffen waren teuer und schwer zu bekommen. Bis dahin bestand Lulas Herausforderung darin, auf Trab zu bleiben und die Sorgen um ihre Zukunft in Schach zu halten.
Eines Morgens brachte der Frust sie dazu, in die Stadt zu fahren und sich den Supermarkt anzusehen, aus dem Alvos Kassenzettel stammte. Sinnlos, wie sie sich schon gedacht hatte. Was sollte da denn passieren? Dass sie das Schicksal dort beide im selben Moment zusammenführte? Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen! Also war jetzt wohl sie dran, den Stalker in dieser Romanze zu geben.
Vor dem Supermarkt parkten die Lieferwagen einer Baufirma. Von der Tür aus sah Lula, dass Reparaturarbeiten im Gange waren. Sie spähte durch einen Spalt im Plastikvorhang. Die Arbeiter waren Chinesen. Vielleicht waren Lulas Freunde die Auftraggeber. Lula wusste, das viele Albaner Bauarbeiterkolonnen beschäftigten. Einige davon hatte sie an dem Abend, als Albanien das WM -Qualifikationsspiel gewann, in einer Bar auf der Second Avenue kennengelernt.
Sie schlenderte durch die Gänge und tat so, als schaute sie sich die Waren an, bis sie bemerkte, dass sie von einer Kassiererin im Sicherheitsspiegel beobachtet wurde. Sie kaufte die teuerste Erdnussbutter, per Hand auf einer Farm in Georgia enthülst, und dazu ein Glas Bio-Erdbeergelee aus Vermont.
Sie zog gerade ihren Mantel aus, als Zeke zur Tür hereinkam.
»Was ist das?« Vorwurfsvoll zeigte er auf die Erdnussbutter und das Gelee, anscheinend beleidigt, dass Lula ohne ihn einkaufen gegangen war.
»Ich bin in die Stadt gefahren«, sagte Lula.
»Du bist in die Stadt gefahren, um Erdnussbutter und Gelee zu kaufen?«
»Hab ich extra für dich besorgt. Ich hatte von dieser Marke in der Zeitung gelesen. Probier mal. Vertrau mir, okay?«
Zeke sagte: »Hast du auch Cracker gekauft?«
»Nimm einen Löffel«, sagte Lula.
Das Wetter wurde noch trostloser, und nach einer Woche in gedrückter Stimmung fuhr Lula Zekes Computer hoch und klickte eine Diashow von Bikinimädchen weg, die alle chatten wollten. Sie stellte sich ihre eigene Diashow vor, Schnappschüsse von verlorenen Andenken und Angehörigen, die das Zeitliche gesegnet hatten. Als 1997 bei ihr daheim die Wirtschaft zusammenbrach, wurde alles geklaut: Türdrücker, Briefkästen, öffentliche Toiletten, Regenrinnen. Diebe kamen bei Nacht und montierten die Schaukelsitze auf Kinderspielplätzen ab, die Trinkbrunnen aus den Parks. Aber wer wollte darüber etwas lesen? Wen interessierte schon die Nachbarin, die beinahe gelyncht worden war, weil sie Papier aus der Gemeinschaftstoilette geklaut hatte?
Die wahren Geschichten ihrer Kindheit waren von schmuddeliger Armseligkeit, ohne jeden romantischen Kick, nur Leiden und mehr Leiden, Betrug und kleinliche Habgier. Da war es netter, in der mythischen Vergangenheit zu schürfen. War das nicht typisch albanisch? Bei jedem Gespräch mit Albanern erzählten sie dir nach spätestens fünf Minuten, dass sie von den alten Griechen abstammten. Den Illyrern. Diese Volkssagen mussten von irgendwoher kommen. Kapuzenshirt hatte gesagt, sie seien alle verwandt. Jedes albanische Märchen war die Lebensgeschichte von jemandes Urgroßmutter. Kleine Schwester hatten sie Lula genannt. Und das mochte durchaus stimmen.
Sie konnte die berühmtesten Legenden aufschreiben und vorgeben, es wären Familiengeschichten. Zum Beispiel die Geschichte des herzlosen Mädchens, das von allen die Schöne der Erde genannt wurde und ihren Prinz durch die Hölle gehen ließ, bevor er sie zur Frau nehmen durfte. Lula schrieb: »Der Halbbruder meines Großvaters verliebte sich in eine Frau, die man die Schöne der Erde nannte. Um auch nur ein kleines Stück von ihr sehen zu dürfen – einen Finger, eine Hand, einen Arm –, verlangte sie Geld von ihm. Er bezahlte für jeden Zentimeter Haut, den er zu sehen bekam, und verschleuderte dafür das gesamte Vermögen seines verstorbenen Vaters. Und bei jedem Zentimeter, jedem wunderschönen Zentimeter, verlangte es ihn noch mehr nach ihr.«
Don und Mister Stanley waren so gut zu ihr. Wie schändlich, dass es so
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