Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
ich mich ungefähr wie diese dicke Person, die sie unlängst im Fernsehen gezeigt hatten. Man hatte sie mit einem Kran aus dem Dachfenster gehievt, weil sie durch keine Tür mehr passte.
Es war zum Heulen.
Boris, der ahnungslose Biber, wollte schnellstmöglich ein Treffen: Er erwartete eine anmutige Gazelle, was würde er also sagen, wenn stattdessen ein trächtiges Nilpferd vor ihn träte?
Er würde sich zu Recht betrogen fühlen.
Dreihundertsiebenundneunzig unglaubliche Punkte blinkten vor meinem inneren Auge auf. Dreihundertsiebenundneunzig. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als abzuspecken. Und wer weiß? Vielleicht war ich in einem halben Jahr ja tatsächlich dünn genug, um ihm gegenüberzutreten.
Unser Vorgarten war von flackernden Kerzen beleuchtet. Helena und Philipp krochen im Gras herum und – Herrgott, sie sammelten Weinbergschnecken in einem alten Blumentopf!
Der Garten war ein Hobby meines Stiefvaters, und er hatte dort Weinbergschnecken angesiedelt, weil sie so hübsch waren und obendrein die Gelege der widerwärtigen Nacktschnecken fraßen. Vor ein paar Jahren hatte er mit einem einzigen Schneckenpärchen begonnen, und mittlerweile gab es eine ganze Kolonie dieser häuschentragenden Riesen. Ich hatte schon am frühen Morgen gesehen, dass sie von den vorfrühlingshaften Temperaturen aus ihren Winterquartieren gelockt worden waren und sich über die zarten Triebe des Klatschmohns hermachten, der sich überall im Staudenbeet ausbreitete.
»Diese Schnecken werden nicht gegessen«, sagte ich empört. »Sie sind Haustiere, keine Nutztiere! Sie sind unsere Freunde.«
Philipp und Helena schauten auf. »Hallo, Hannilein«, sagte Philipp. »Natürlich essen wir die Schnecken nicht, wo denkst du hin? Wir bemalen sie nur.«
Jetzt erst sah ich, dass sie beide einen Permanentmarker in der Hand hielten. Die Tiere, die neben Helena im Gras lagen, waren mit den Wörtern »fuck«, »her«, »him« und »break« beschriftet. Philipps Schnecken hießen »kiss«, »happy« und »day«.
»Wozu um Himmels willen soll das gut sein?«, fragte ich ehrlich verwirrt.
»Man könnte sagen, wir lernen Englischvokabeln«, antwortete Philipp fröhlich und entließ eine besonders große Schnecke mit der Aufschrift »Moonlight« ins Gras. »Helena sagt, das ist genau die richtige Beschäftigung für eine Vollmondnacht.«
»Der Mond ist aber abnehmend«, sagte ich.
»Neidisch, ey?«, fragte Helena.
»Was denn, auf den Mond?«
»Ja, ey, weil er abnimmt«, sagte Helena und kicherte hexenhaft.
Da, schon wieder eine abfällige Bemerkung zu meiner Figur. Es nahm einfach kein Ende.
»Er nimmt aber auch wieder zu, das nennt man Jojo-Effekt, schon mal gehört?«, sagte ich. »Die armen Schnecken. Das ist doch Tierquälerei. Wie würdet ihr euch fühlen, wenn euch jemand fuck auf den Rücken schreiben würde?«
»Ey, Mann, ey, zufällig steht genau das auf meinem T-Shirt«, sagte Helena. »Aber das hier ist ein ernsthaftes Ritual, ey. Es hat eine tiefere Bedeutung, als du dir vorstellen kannst.«
»Was denn? Es gibt allen Ernstes ein Ritual, bei dem man Weinbergschnecken beschriftet?«
»Oh ja«, sagte Helena. Sie hockte genau über einem Windlicht, und mit ihren von unten beleuchteten Gesichtszügen wäre sie in jedem Horrorfilm herzlich willkommen gewesen. »Im Bereich der Magie gibt es nichts, was es nicht gibt.«
»Ey«, ergänzte ich automatisch.
Helena richtete sich auf. »Hast du Angst, ich könnte dich verhexen?« Im Dunkeln glitzerten ihre Augen eigenartig. »Blood«, hatte sie auf eine Schnecke geschrieben, die gerade unter einem Rhododendronbusch Schutz suchte.
Ja, ich hatte Angst, wenn auch nicht vor Helenas Hexenkünsten. Es war nur offensichtlich, dass sie einen wirklich massiven Dachschaden hatte, und wer auf die Idee kam, Schnecken mit obszönen Englischvokabeln zu bemalen, kam vielleicht noch auf ganz andere Ideen.
Ich überlegte, ob jetzt nicht der Augenblick gekommen war, sie ein für alle Mal aus dem Haus zu werfen.
»Du Hanna, es ist gar nichts Richtiges zu essen im Haus«, sagte Philipp und entließ eine weitere Schnecke ins Gras. Auf ihrem Häuschen stand »heart«. »Nur so komisches Grünzeug, Möhren, Paprika, Salat, Tomaten …«
»Freut euch doch«, sagte ich. »Nichts von toten oder lebendigen Tieren.«
»Ja, aber auch nichts, von dem man satt werden kann«, jammerte Philipp.
Da hatte er leider nur allzu Recht.
»Tut mir Leid, aber alles andere musst du dir in Zukunft selber
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