Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
als sie ihre Augen verdrehte und ihr Körper unter meinem erschlaffte.
»Du bringst sie um«, rief mein Bruder, aber er machte keinerlei Anstalten, Helena zur Hilfe zu kommen. Er sank inmitten der zerdrückten Narzissen zusammen und weinte jämmerlich.
Ich weinte auch, aber ich wagte es nicht, Helena loszulassen. Irgendwie fürchtete ich, sie könne wie Glenn Close in »Eine verhängnisvolle Affäre« wieder zu neuem Leben erwachen und das Messer noch einmal zücken.
Nach einer Ewigkeit – in Wirklichkeit waren es vielleicht zwei Minuten – zog mein Stiefvater mich auf die Beine und untersuchte mich auf Verletzungen. Ich hatte keine, höchstens ein paar blaue Flecken von Helenas spitzen Knochen.
Benommen blinzelte ich in das Kerzenlicht. Meine Mutter hockte neben meinem Bruder in den Narzissen und hatte ihre Strickjacke um seine Schultern gelegt.
»Was ist mit Helena?«, fragte ich, nicht wirklich besorgt, nur neugierig. Wenn ich sie zerquetscht hatte, würde es mir nicht Leid tun.
»Sie ist ohnmächtig, Hanna«, sagte Jost. »Sie kann uns nichts mehr tun.«
»Sie hat ein Messer. Und sie hat die Ratte getötet«, schluchzte ich und verbarg meinen Kopf an seiner Schulter. »Und Philipp hat dabei mitgemacht. Es war irgendeine schreckliche Zeremonie …, und die Ratte hat geschrien.«
»Sie haben Drogen genommen«, sagte Jost. »Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Und ich hätte auch die Polizei gerufen, wenn deine Mutter nicht dagegen wäre.«
»Keine Polizei«, sagte meine Mutter. Ihr Gesicht war blass und angespannt, aber sie weinte nicht. »Das gibt nur noch mehr Probleme.«
»Du musst es ja wissen«, sagte Jost. Wir ließen Helena auf der Wiese liegen und brachten Philipp ins Haus, wo er sich völlig apathisch von Mama waschen und ins Bett legen ließ. Sie wollte auch mich waschen, aber ich konnte es nicht ertragen, dass sie mich anfasste.
Gereizt schob ich ihre Hand weg. »Ich kann mich selber waschen, danke.«
Mama machte ein Gesicht, als hätte ich sie geohrfeigt. Niedergeschlagen setzte sie sich auf Philipps Bettkante. Philipp war in einen tiefen Schlaf gesunken.
Von draußen ertönten die Sirenen des Rettungswagens.
»Er gehört auch ins Krankenhaus«, sagte Jost.
»Nein«, sagte meine Mutter aufgeregt. »Er braucht nur ein bisschen Ruhe und Geborgenheit. Glaub mir, wenn sie ihn im Krankenhaus untersuchen und merken, dass er Drogen genommen hat, dann hat er erst recht Ärger am Hals.«
»Du musst es ja wissen, Irmgard«, sagte Jost wieder. Er klang ungewohnt kühl, und der Vorname, den sie schon länger nicht gehört hatte, schien Mama aufzurütteln.
»Es tut mir so Leid«, sagte sie.
»Dafür ist es jetzt wohl zu spät«, sagte Jost. »Dein Jüngster schläft gerade einen Drogenrausch aus, von dem ich annehme, dass es nicht sein erster ist. Und deine Tochter …« Er brach ab, als er mich ansah. »Geh unter die Dusche, Liebes. Und dann ins Bett. Ich kümmere mich um alles andere.«
Es war ein verlockendes Angebot, aber als ich unter der Dusche stand und das Blaulicht des Krankenwagens durch die Milchglasscheibe blinken sah, brachte ich es nicht über mich, ihn mit der ganzen Sache allein zu lassen. Ich zog mich rasch an und lief wieder hinaus.
Die Sanitäter nahmen Helena mit ins Krankenhaus, und Jost und ich fuhren ebenfalls dorthin, um ihre Eltern zu treffen. Jost hatte sie benachrichtigt.
Die Eltern erlebten so etwas offensichtlich nicht zum ersten Mal, sie nahmen die Nachricht, dass ihre Tochter unter Drogen völlig ausgerastet war, mit einer gewissen traurigen Routine hin. Helena nahm schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Drogen und fühlte sich von schwarzmagischen Ritualen angezogen. Auf ihren eigenen Wunsch wurde sie am nächsten Morgen in die geschlossene psychiatrische Abteilung gebracht. Auch hier war sie nicht zum ersten Mal. Vor zwei Jahren bereits hatte man bei ihr eine schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Die Krankheit konnte durchaus durch ihren Drogenkonsum ausgelöst worden sein, aber genau wusste das niemand. Um der Kontrolle ihrer Eltern zu entgehen, war Helena abgehauen, und jeder Tag, den sie bei uns hatte wohnen dürfen, war vergangen, ohne dass sie ihre Medikamente zu sich nahm. Stattdessen konsumierte sie wieder Drogen, und das Ende der Geschichte kannten wir ja.
Mama, der Jost all diese Zusammenhänge am nächsten Tag auseinandersetzte, war ungewohnt kleinlaut. »Ich hätte doch merken müssen, das etwas nicht stimmt«, sagte sie. »Was
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