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Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Titel: Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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ist, Kinder glücklich zu machen«, hatte ich gesagt, und Toni hatte geseufzt: »Mich glücklich zu machen, wäre noch viel einfacher. Ich wünsche mir nichts mehr, als nur einmal eine Nacht durchzuschlafen.«
    Da sie mittlerweile gewaltige Muttermilchvorräte in ihrer Tiefkühltruhe aufbewahrte und ich noch nichts Besonderes für das Wochenende vorhatte, hatte ich ihr versprochen, in der Nacht von Samstag auf Sonntag die Kinder zu hüten. Mehr noch:
    »Ich komme am schon Nachmittag, damit du und Justus euch in aller Ruhe zum Ausgehen fertig machen könnt. Du kannst ein Bad nehmen und eine Haarkur machen, und dann geht ihr händchenhaltend ins Kino und anschließend zum Essen. Und wenn ihr zurückkommt, ist die Wohnung geputzt, und die Kinder liegen in ihren Betten und der Hamster in seinem Käfig«, hatte ich gesagt, und Tonis Augen hatten geleuchtet. »Die ganze Nacht wirst du ungestört schlafen, am besten mit Ohropax, für den Fall, dass die Kleinen aufwachen, und am Morgen kannst du so lange liegen bleiben, wie du willst. Ich werde dir das Frühstück ans Bett bringen.«
    »Herrlich«, hatte Toni gesagt. »Von mir aus können wir das mit dem Kino und dem Essen gehen aber auch weglassen und direkt zu der Stelle mit dem Ohropax kommen!«
    Aber zu Tonis Ohropaxnacht sollte es nicht kommen.
    Gerade als ich meinen Kalender mit den vielen Sonnen zugeklappt hatte und die Nachttischlampe ausknipsen wollte, hörte ich einen merkwürdigen Schrei.
    Ich konnte nicht erkennen, ob er von einem Menschen oder einen Tier ausgestoßen wurde, aber er war so unbeschreiblich entsetzlich, dass mein ganzer Körper augenblicklich mit einer Gänsehaut überzogen wurde. Im Schlafanzug stürzte ich aus meinem Zimmer und hinaus in den Garten, von wo der Schrei gekommen war. In der Terrassentüre blieb ich stehen, völlig fassungslos vor dem Anblick, der sich mir bot.
    Da, wo früher unser Sandkasten gestanden hatte, war heute ein kleines Rondell, umrahmt von sorgfältig in Form geschnittenen Buchsbaumhecke. Das kreisförmige Beet war mit Narzissenzwiebeln bestückt, die dicht an dicht in der Erde lagen und ein einziges, leuchtend gelbes Blütenmeer bildeten. Später im Jahr pflegte Jost es mit einjährigen Sommerblumen zu bepflanzen, und im Juli blühten dort Ringel- und Sonnenblumen mit Elfenspiegel, Phacelia und weißen Levkojen um die Wette. Unter dieser Blütenpracht, genau in der Mitte der Rasenfläche, befand sich zudem das Grab unseres Katers Kasimir, der vor ein par Jahren an Altersschwäche gestorben war.
    Es war kurz vor Mitternacht und dunkel, aber das Rondell war von dutzenden flackernder Windlichter beleuchtet, und in seiner Mitte standen Philipp und Helena, um sich herum lauter zerdrückte gelbe Blüten. Beide hatten nicht viel an, und ihre nackte Haut leuchtete weiß in der Dunkelheit. Ich wusste sofort, dass es Blut war, was ihnen in dunklen, hässlichen Spuren über Arme und Brust lief, und zuerst dachte ich, Helena habe sich mit dem Messer, das sie in der Hand hielt und hoch in die Luft reckte, geschnitten. Aber dann sah ich, dass das Blut von dem kleinen, schlaffen Gegenstand kam, den sie mit ihrer anderen Hand an ihre Kehle drückte. Es war eine Ratte, Helenas Ratte, wie sich später herausstellte, und mir dämmerte, dass es die Ratte gewesen war, deren Todesschrei ich vernommen hatte. Es dauerte etwa eine Sekunde, bis ich das ganze Bild in mich aufgenommen hatte, mein Bruder, der sich zusammenkauerte und die Augen zuhielt, und Helena mit der blutigen Ratte in der einen und dem Messer in der anderen Hand.
    »Aspergo, aspergo, aspergo«, murmelte sie mit geschlossenen Augen, und Philipp neben ihr wimmerte eigenartig.
    Grauen, Angst, Ekel und unbeschreibliche Wut ließen mich laut schreien. Ich schrie, während ich auf das Buchsbaumrondell zurannte, und ich schrie noch, als Helena ihre Augen aufriss und mit der Messerhand nach mir stach. Ihre Reaktion war durch das Zeug, das sie geschluckt hatte, so verlangsamt, dass ich sie rückwärts auf den Rasen gepresst hatte, bevor sie mich treffen konnte. Mit aller Kraft und aller Wut drückte ich ihr mageres Handgelenk zusammen, und sie ließ das Messer los.
    »Nicht jetzt«, keuchte sie. »Wir sind noch nicht fertig!«
    »Doch«, sagte ich. »Das seid ihr!«
    Die tote Ratte lag nicht weit von meinem Gesicht, und der Anblick verursachte in mir einen heftigen Würgereiz. Trotzdem hielt ich Helena weiter mit meinem ganzen Gewicht an den Boden gepresst und ließ sie auch nicht los,

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