Lügen haben rote Haare
Ohr.
»Dank genialer Technik bin ich bis ins kleinste Detail informiert, Frau van Goch. Frau Piefke hat mir heute früh erzählt, wie panisch du gestern reagiert hast, nachdem sie dir erzählte, dass ich eine Videoüberwachung im Haus installiert habe. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie geschockt du warst. Du musst mir also nichts mehr erklären. Ich möchte auch keine Entschuldigungen und Ausreden für deine großartigen Ideen hören. Du bist eine sehr gute Schauspielerin.«
Ich wehre mich nicht, als sein Zeigefinger ganz sanft mit einer meiner Locken spielt, und starre weiter Löcher in die Zimmerdecke. Dabei halte ich die Bettdecke so verkrampft, dass meine Finger schmerzen.
»Ich hatte bereits den Telefonhörer in der Hand, um den Rechtsweg zu beschreiten … dann habe ich mich jedoch für Plan B entschieden. Du wirst meinen guten Ruf wieder herstellen. Ich kann es mir nicht leisten, dass die gesamte Belegschaft hinter meinem Rücken tuschelt und über mein Privatleben spekuliert. Du wirst die Rolle meiner Lebensgefährtin spielen, nicht nur vor deiner Familie … nein … auch in der Firma. Du wirst deinen reizenden Hintern gleich aus dem Bett heben und …«
Als es an der Tür klopft, krächze ich »Herein« und bin meiner Mutter dankbar, dass sie Pauls Monolog unterbricht. Mit Putzeimer samt Bodentuch will sie sich an die Säuberung des Fußbodens machen. Geigenpaul schleimt sich ein, nimmt das Putzzeug an sich und macht sich mit Wasser und Lappen daran, die widerliche Masse vom Boden zu wischen. Verlegen schaut meine Mutter zu. Einem Mann bei einer derartigen Arbeit zuzuschauen, ist für sie ein seltener Anblick.
Ich nutze die Gunst der Stunde und verschwinde ins Badezimmer. Mit fahrigen Bewegungen krame ich nach meiner Zahnbürste, auf die ich einen Berg Zahnpasta drücke, um heftig meine Zähne und Zunge mit den harten Borsten zu bearbeiten. Anschließend steige ich mit wackeligen Beinen unter die Dusche und lasse so lange heißes Wasser über mein Gesicht laufen, bis ich das Gefühl habe, dass es glüht. Ohne mich abzutrocknen, schlüpfe ich in den Bademantel meiner Mutter. Im Spiegel zeigt sich die Wirkung der heißen Dusche, meine Wangen sind gut durchblutet. Bockig stampfe ich mit dem Fuß auf und bürste die nassen Haare. Der hat doch einen Knall! Ich ziehe Grimassen und äffe ihn nach.
»Ich hatte schon den Telefonhörer in der Hand, um den Rechtsweg zu beschreiten.«
Hat der ein Juradiplom gefrühstückt? Ich lasse mich nicht erpressen, soll er mich doch anzeigen. Wenn ich nicht irre, ist Erpressung ebenfalls strafbar. Dann wandern wir eben alle in den Knast, von mir aus die gesamte Firma. Mal sehen, wie ihm diese Idee gefällt. Ach ja, und kündigen werde ich auch. Fristlos, jetzt gleich. Zu einem Chef, der einen erpresst, kann man doch kein Vertrauen mehr haben.
Auf Krawall gebürstet gehe ich zurück in mein Zimmer. Der Erpresser hockt an meinem Schreibtisch und blättert in einem meiner alten Schulhefte. Entschlossen stemme ich die Hände in die Hüften, rutsche jedoch an dem Bademantel der Größe 46 ungeschickt ab. Geigenpaul registriert zwei weitere Versuche, in denen ich mich bemühe, eine entsprechende Kampfhaltung einzunehmen, mit einem leichten Schmunzeln. Ich gebe auf, verschränke stattdessen die Arme vor der Brust und schiebe meinen Unterkiefer nach vorne.
»Hiermit … ich meine … jetzt kündige ich, Herr Geiger. Und zwar fristlos.«
Er blickt wieder gelassen in mein Rechenheft aus der Grundschule.
»Hier, Frau van Goch.« Er hält mir eine Seite vor die Nase. »Das ist kein Fehler. Dein Lehrer hat falsch korrigiert. 47-13 ist 34. Du hast richtig gerechnet!«
»Was?« Ich reiße ihm das Heft aus den Händen und starre ungläubig auf den roten Strich. Er hat recht.
Paul schlägt die nackten Beine übereinander und kratzt sich am Kinn. Wütend knalle ich das Heft auf den Schreibtisch.
Das Mathematikgenie reibt sich die Nase. »Du kannst nicht kündigen, Frau van Goch. Noch nicht. Erst spielen wir unser Spiel.«
»Kann ich wohl! Sie werden sehen. Ich erscheine nicht mehr in der Firma. Weder morgen, noch übermorgen, noch überübermorgen … überhaupt nie mehr! Sie zeigen mich wegen Hausfriedensbruch oder Einbruch an, ich zeige Sie wegen Erpressung an, dann sind wir quitt.«
Er steht abrupt auf, läuft einige Schritte auf und ab.
»Also gut, vergessen wir die ganze Geschichte. Wenn du angezogen bist, gehen wir runter und du beichtest deiner Familie deine
Weitere Kostenlose Bücher