Lügen in Kriegszeiten
einschlagen mußte.
Überdies wissen wir jetzt, daß, wenn Deutschland die belgische Neutralität nicht verletzt hätte, Frankreich es getan hätte. Die Autorität für diesen Aufschluß, der vom Standpunkt der militärischen Strategie aus vollkommen verständlich ist, ist General Percin, dessen im Jahre 1925 in der Ere Nouvelle erschienene Artikel im Manchester Guardian vom 27. Januar 1925 in nachstehender Weise angeführt und kommentiert sind:
Frankreichs beabsichtigte Neutralitätsverletzung Belgiens
Angaben eines französischen Generals.
(Von unserem eigenen Berichterstatter.)
Paris, Montag.
Unmittelbar vor Großbritanniens Eintritt in den Krieg von 1914 fragte die britische Regierung sowohl in Berlin wie auch in Paris an, ob die belgische Neutralität geachtet würde. War die Anfrage bei Frankreich eine reine Formsache?
Augenscheinlich nicht, wenn General Percin, dem gut bekannten, radikalen, nicht-katholischen General, Glauben geschenkt werden darf, denn er legt in einer Reihe von Artikeln, die er in der Ere Nouvelle begonnen hat, dar, daß die Verletzung der belgischen Neutralität seit vielen Jahren einen Bestandteil der gesamten Kriegspläne des französischen Generalstabes und sogar der französischen Regierung bildete.
Die darüber entstandene Kontroverse ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, von weltweiter Bedeutung, denn sie befreit Deutschland in hohem, moralischem Grade von dem Fetzen Papier Stigma, mit dem man es gebrandmarkt hat.
General Percin ist, wie zugegeben werden muß, ein verbitterter Mann, obschon sich noch niemand gefunden hat, der seine Ehre oder seine Fähigkeit in Frage gestellt hätte. Er ist Protestant – ein seltener Fall in den hohen Rängen der französischen Armee – und ist mit der Hierarchie des französischen Generalstabes immer im Streit gelegen. Darüber braucht man sich indes nicht zu verwundern, denn er war Kabinettschef des Generals André, des Kriegsministers im Kabinett Combes, als im Dreyfus-Handel mehr oder weniger vergebliche Anstrengungen gemacht wurden, die Oberste Heeresleitung zu säubern. General Percins Hauptinteresse galt der Artillerie, und während des Krieges machten die deutschen Zeitungen hauptsächlich ihn für die Verwendung der berühmten 75er verantwortlich. Man hat nie genau erfahren, warum er in den ersten Kriegswochen des militärischen Kommandos in Lisle enthoben wurde. Es scheint ein Racheakt gewesen zu sein. Jedenfalls beweist die spätere Verleihung des Grand Cordon der Ehrenlegion, daß er nicht in Ungnade gefallen war.
Eine Entdeckung von 1910–1911.
General Percins Aussagen in der Ere Nouvelle datieren aus der Zeit, als er einer von den Chefs des Obersten Kriegsrates war. Er schreibt. „Im Winter 1910–1911 nahm ich persönlich an einem großen, im Obersten Kriegsrate organisierten Feldzuge teil. Ich war damals ein Mitglied des Rates. Der Feldzug dauerte eine Woche. Er zeigte, daß ein deutscher Angriff auf die elsaß-lothringische Front keine Aussicht auf Erfolg habe; daß er unfehlbar an den in diesem Gebiete angehäuften Verschanzungen zerschellen müßte und daß Deutschland gezwungen sein würde, die belgische Neutralität zu verletzen.“
„Die Frage, ob wir dem deutschen Beispiele folgen und im Notfalle ihm selbst zuvorkommen, oder ob wir den Feind diesseits der belgischen Grenze erwarten sollen, wurde nicht erörtert. Aber jeder Truppenbefehlshaber, der in Kriegszeiten erfährt, daß der Feind die Absicht hegt, einen Punkt zu besetzen, dessen Lage ihm einen taktischen Vorteil bietet, hat die gebieterische Pflicht, zu versuchen, diesen Punkt als Erster zu besetzen, und zwar so rasch als möglich. Hätte einer von uns gesagt, daß er aus Achtung vor dem Vertrag von 1839 aus eigener Initiative diesseits der belgischen Grenze geblieben wäre und so den Krieg auf französisches Gebiet gebracht hätte, so wäre er von seinen Kameraden und vom Kriegsminister selbst verhöhnt worden.“
„Wir alle in der französischen Armee waren Anhänger der taktischen Offensive. Diese schloß die Verletzung der belgischen Neutralität in sich, denn die Absichten der Deutschen waren uns bekannt. Man wird mir sagen, daß sie unsererseits kein französisches Verbrechen gewesen wäre, sondern eine Erwiderung, ein Gegenstoß auf das deutsche Verbrechen. Ohne Zweifel. Aber jeder Eintritt in einen Krieg ist angeblich ein solcher Gegenstoß. Wir greifen den Feind an, weil wir ihm die Absicht unterschieben, daß er uns angreifen
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