Lügen in Kriegszeiten
Angst vor „einem unprovozierten Angriffe“ haften, und so wird sie die hauptsächlichste, ja, tatsächlich, die einzige Rechtfertigung für die Vorbereitungen zu weiteren Kriegen.
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Durchzug russischer Truppen durch Großbritannien
Kein Gerücht hatte während des ganzen Krieges eine weitere Verbreitung und mehr Glauben gefunden als das vom Durchzug russischer Truppen durch Großbritannien in den letzten Monaten des Jahres 1914. Nichts illustriert besser die Leichtgläubigkeit des öffentlichen Geistes in Kriegszeiten und was für einen günstigen Boden er für die Zucht der Lüge abgibt.
Es läßt sich schwer sagen, wie das Gerücht eigentlich entstand. Später konnte man mehr oder weniger witzige Erklärungen darüber vernehmen: ein Telegramm habe die Ankunft einer großen Sendung russischer Eier gemeldet, die kurz als „Russen“ bezeichnet waren; ein großer, bärtiger Mann habe vom Fenster eines Zuges aus erklärt, er komme aus „Roß-shire“; und ein aufgeregter französischer Offizier mit einer schlechten englischen Aussprache sei die Front entlang gelaufen und habe gerufen: „Where are the rations“. Aber General Sukhomlinow führt in seinen Memoiren ans, daß Sir George Buchanan, der britische Botschafter in Rußland, tatsächlich die Forderung gestellt hatte, daß „ein vollständiges russisches Armeekorps“ nach England und daß englische Schiffe zum Transport dieser Truppen nach Archangel geschickt werden. Der russische Generalstab, fügt er hinzu, kam zu der Überzeugung, daß ,,Buchanan den Verstand verloren hatt e “.
Was auch immer der Ursprung dieser Gerüchte gewesen sein mag, so verbreiteten sie sich jedenfalls wie Lauffeuer, und von allen Teilen des Landes kamen Aussagen von Leuten, die die Russen gesehen hatten. Sie waren in Zügen mit zugezogenen Vorhängen, sie stampften auf Bahnsteigen den Schnee von den Füßen; in Carlisle und in Berwick schrien sie mit heiserer Stimme nach „Wodka“, und in Durham sprengten sie den Automaten mit einem Rubel. Die Zahl der Truppen war je nach der Einbildungskraft des Zeugen größer oder kleiner.
Da das Gerücht jedenfalls militärischen Wert hatte, so geschah von seiten der Behörden nichts, um es in Abrede zu stellen. Es erschien ein Telegramm aus Rom, das „die amtliche Nachricht von der Konzentration von 250 000 russischen Truppen in Frankreich“ brachte. Bezüglich dieses Telegrammes erklärte das amtliche Pressebüro: „Daß keine Bestätigung der in demselben enthaltenen Angaben vorliege, daß man aber gegen dessen Veröffentlichung nichts einzuwenden habe.“ Da eine strenge Nachrichtenzensur bestand, so diente die Freigabe dieses Telegrammes zur Bestätigung des Gerüchtes, und die falschen Zeugen hatten es jetzt um so wichtiger.
Am 9. September 1914 erschien nachstehende Notiz in den Daily News :
Die amtliche Genehmigung zur Veröffentlichung des obigen (des Telegramms aus Rom) entbindet die Zeitungen von ihrer Zurückhaltung in bezug auf die Gerüchte, die in den letzten vierzehn Tagen mit solch erstaunlicher Hartnäckigkeit in ganz England kursierten. Was auch immer die ungeschminkte Wahrheit über die russischen Truppen an der Westfront sein mag, so ist doch das Auftauchen der in Frage stehenden Gerüchte an allen Ecken und Enden so außergewöhnlich, daß sie beinahe verblüffender sind, wenn sie falsch sind, als wenn sie sich als wahr erweisen. Entweder hat ein grundloses Gerücht ganz beispiellose Verbreitung und Glauben gefunden, oder es ist, so unglaublich es auch scheinen mag, dennoch Tatsache, daß russische Truppen, was immer ihre Zahl sein mag, ausgeschifft und durch dieses Land befördert worden sind, ohne daß einer unter Zehntausenden mit Bestimmtheit zu sagen vermochte, ob sie wirklich hier waren oder nicht.
Die Presse war im ganzen zurückhaltend, da sie eine Falle befürchtete, und der Daily Mail sprach die Vermutung aus, daß die Bekanntmachung des russischen Generalkonsuls, daß „ungefähr 5000 russische Reservisten die Erlaubnis erhalten haben, den Alliierten zu dienen“, diesem Gerüchte zugrunde liegen dürfte. Gleich einem volkstümlichen Buche fand das Gerücht mehr durch mündliche, persönliche Mitteilungen als durch Pressenotizen Verbreitung.
Am 14. September 1914 kamen die Daily News wieder auf dieses Thema zurück:
Wie aus dem langen Berichte unseres Sonderberichterstatters, Mr. P. J. Philip, ersichtlich ist, operieren jetzt russische Truppen gemeinsam mit den Belgiern.
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