Luegenprinzessin
Suchend blickte ich hinter mich, hielt nach meiner Clique Ausschau, ich wusste, wir sollten gemeinsam da raus, wusste, sie würden ihren Auftritt verpassen, wenn sie nicht gleich auftauchten. Das Winken auf der Bühne wurde fordernder und dringender. Ich konnte sie nicht länger hängen lassen, also ging ich los. Ich wankte auf den hohen Schuhen und stolperte immer wieder, doch niemand konnte meine ungeschickten Beine unter dem Kleid sehen und für die Zuschauer hatte es den Anschein, als würde ich tanzen. In der Mitte der Bühne angekommen, wandte ich mich frontal dem Publikum zu. Spontaner Applaus erhob sich, ich war glücklich. Da hörte ich hinter mir die Stimmen meiner vier Freunde. Ihre Stimmen und ihr Gelächter. Sie standen direkt hinter mir, als mir klar wurde, dass nur die Vorderseite meines Kostüms existierte. Hinten herum war ich vollkommen nackt. Erschrocken drehte ich mich um, doch jetzt war meine blanke Kehrseite dem Publikum zugewandt. Meine vier Freunde lachten immer noch, die Zuschauer jedoch schrien. Ich drehte mich wild im Kreis, wusste nicht, wie ich meine Blöße bedecken sollte, ließ mich schließlich auf den Rücken fallen und schrie ebenfalls. Schrie so lange und laut, bis ich kapierte, dass ich nicht mehr träumte.
Dass der Schrei echt war. Und dass er nicht von mir kam.
Mühsam kämpfte ich mich hoch, fragte verwirrt, was denn los sei, kroch im Stockdunkeln durchs Zelt, über Körper und Köpfe. Ich spürte Haare unter meinen Fingern und wurde immer wieder gestoßen. Als endlich eine Taschenlampe anging, sah ich Vero hustend und stöhnend am Boden liegen. Diana saß neben ihr und Joe kniete auf der anderen Seite und fingerte ebenfalls hustend an ihrer Taschenlampe herum. Hinter ihr hörte ich ein Würgen und dachte schon, dass Kinga wieder am Reihern sei, doch es war Amelie, die hervorstieß: »Verdammt, was ist das? Da kommt einem ja das Kotzen!«
»Raus! Raus aus dem Zelt!«, quetschte Joe hervor.
Ich keuchte, hustete drauflos.
»Raus!« Joe packte Veros einen Arm, Diana den anderen, ich half von hinten, sie auf die Beine zu bekommen. Die Quaks waren als Erste aus dem Zelt, dachten aber immerhin daran, uns die Plastiktüren aufzuhalten. Vero röchelte immer noch, die Hustenattacken von uns anderen wurden in der frischen Luft sofort besser. Trotzdem dachte ich, dass Mr Bean wirklich fertig sein musste, wenn er bei dem vorangegangenen Lärmpegel schlafen konnte.
Vero war erneut zu Boden gegangen, ich kniete mich zu ihr. Irgendjemand leuchtete mit der Taschenlampe in ihr Gesicht. Sie hatte beide Hände davorgelegt, doch die Teile, die zu sehen waren, leuchteten rot.
Sie stöhnte laut.
»Was ist los?«
Jetzt gab sie ihr Gesicht frei. Ich fuhr betroffen zurück. Ein erschrecktes Flüstern ging durch die Runde.
Veros Augen waren fest geschlossen, die Augenlider dick angeschwollen wie zwei rote Schlauchboote. Ihr ganzes Gesicht leuchtete rot.
»Eine allergische Reaktion«, diagnostizierte Kinga panisch.
»Pfefferspray«, erklärte Joe mit dumpfer Stimme.
Ich sprang auf. »Wir müssen jedenfalls einen Krankenwagen rufen!«
»Nein!«, rief Vero vom Boden aus. Schluchzend stieß sie hervor: »Dann merkt Bieninger, dass wir getrunken haben. Meine Eltern bringen mich um, wenn sie das erfahren. Bitte nicht, bitte nicht.«
»Sie hat recht«, bekräftigte Diana. »Wenn es nicht lebensbedrohlich ist, dann sollten wir uns möglichst still verhalten.«
»Nicht lebensbedrohlich?«, rief ich.
»Pscht«, machte Diana.
»Sieh sie dir doch mal an!«, zischte ich.
»Mia, leise, bitte«, wimmerte Vero.
Ich starrte sie an. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! »Also gut«, murrte ich schließlich. »Und was machen wir jetzt mit dir? Und mit der Pesthölle da drin? Wir können doch nicht die ganze Zeit draußen bleiben.«
Diana kroch zurück ins Zelt und kam nach wenigen Sekunden wieder heraus. »Ist schon viel besser mittlerweile. Ich würde vorschlagen, wir klappen die Fenster und die Türen auf, damit es gut durchziehen kann.«
»Gut, mach das.« Joe übernahm das Kommando. »Und wir kümmern uns um Vero. Wer hat klares Wasser mit?«
»Ich«, riefen die Quak-Mädchen im Chor. Deren zucker- und kohlensäurefreie Diät machte sich also zum ersten Mal richtig bezahlt.
»Ich geh da aber nicht rein, solange noch Erstickungsgefahr besteht«, machte Quen klar.
»Aber ich.« Und schon war Amelie im Zelt verschwunden. Wow, schoss es mir durch den Kopf, anscheinend hat doch jeder Mensch
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